Die Vereinigung freiheitlicher Jurist:innen (ÖHD) und die Föderation der Rechtshilfe- und Solidaritätsvereine für Familien von Gefangenen (MED TUHAD-FED) wiesen auf einer gemeinsamen Pressekonferenz auf die verschärfte Isolation von Abdullah Öcalan und die Situation kranker, fortlaufend inhaftierter Gefangener hin. Die Verbände forderten ein unverzügliches Ende der Menschenrechtsverletzungen und die Rückkehr zu rechtsstaatlichen Prinzipien.
An der Pressekonferenz in Ankara nahmen auch die DEM-Abgeordneten Dilan Kunt Ayan aus Riha (tr. Urfa) und Ceylan Akça Cupolo aus Amed (Diyarbakır) sowie der Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins (IHD), Hüseyin Küçükbalaban, teil.
Die Rechtsanwältin Sidal Bayrak von der ÖHD-Zweigstelle Ankara verlas die Pressemitteilung. Sie betonte, dass die strenge Isolation und die willkürlichen Hinrichtungspraktiken in den Gefängnissen den Prinzipien eines auf den Menschenrechten basierenden Rechtsstaates widersprechen. Sie stellte fest, dass die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenwürde systematisch verletzt werden und attestierte dem türkischen Justizsystem eine Legitimationskrise.
Recht auf Behandlung wird verletzt
Bayrak sagte, dass das Recht kranker Gefangener auf medizinische Versorgung häufig verletzt werde, und fügte hinzu: „Selbst wenn vom Justizministerium als voll ausgestattet eingestufte Krankenhäuser medizinische Berichte vorlegen, werden diese nicht als gültig angesehen, solange sie nicht vom Institut für Rechtsmedizin (ATK) genehmigt wurden. Das ATK ist weder unparteiisch noch unabhängig und verursacht aufgrund bürokratischer Abläufe lange Verzögerungen für kranke Häftlinge. Im Sinne der EGMR-Urteile stellt diese Vorgehensweise Folter oder unmenschliche Behandlung dar. Der Tod und die sich verschlimmernde Krankheit vieler Häftlinge sind ein konkreter Beweis dafür, dass der Staat das Recht auf Gesundheit und Leben verletzt.“
Verzögerungstaktiken verhindern Diagnosen
In zentralanatolischen Gefängnissen, darunter Afyon, Bolvadin, Eskişehir, Karabük, Kırşehir, Sincan und Yozgat, befinden sich laut der Anwältin 74 erkrankte Gefangene. Sie führte aus: „Von ihnen befinden sich elf in einem ernsten Zustand. Bei vielen von ihnen kann jedoch keine Diagnose gestellt werden, weil die Verlegung in ein Krankenhaus verzögert oder verweigert wird oder weil sie unmenschliche Praktiken wie die Durchsuchung der Mundhöhle oder Untersuchungen in Handschellen ablehnen. Trotz medizinischer Gutachten werden viele schwerkranke Gefangene nicht entlassen, was gegen ihr Recht auf Leben verstößt.“
Bayrak zitierte die jüngsten Fälle von zwei Häftlingen, die erst entlassen wurden, nachdem festgestellt wurde, dass sie nicht allein im Gefängnis bleiben konnten. Sie betonte, dass auch andere, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, unverzüglich entlassen werden müssen und dass die Behandlung schwerkranker Gefangener außerhalb des Gefängnisses fortgesetzt werden muss.
Willkürliche Entscheidungen von Strafvollzugsausschüssen
Die Rechtsverstöße im türkischen Justiz- und Haftsystem gehen noch weiter. Bayrak wies ausdrücklich darauf hin, dass viele Häftlinge, die ihre Strafe bereits abgesessen haben, aufgrund willkürlicher Entscheidungen der Gefängnisverwaltungen und -vorstände nicht entlassen werden. Insgesamt wurde die Freilassung von 46 Gefangenen in den zantralanatolischen Gefängnissen blockiert. Aufgrund auferlegter „Reue“-Bedingungen wird im Frauengefängnis von Sincan keine der Insassinnen auf Bewährung entlassen, im Karabük-Gefängnis wurde nur eine einzige Bewährung gewährt.
Bayrak betonte, dass unbefristete Haftstrafen gegen das Recht auf Freiheit und ein faires Verfahren verstoßen. Willkürliche Hinrichtungspraktiken ermöglichen es dem Staat, seine Strafgewalt unbegrenzt auszuüben, was zu einer Aushöhlung der Grundrechte führt. Sie forderte ein sofortiges Ende solcher Praktiken durch die Gefängnisverwaltungen.
Öcalans Bedingungen müssen sich ändern
Unter Bezugnahme auf Abdullah Öcalans „Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft“ vom 27. Februar sagte Sidal Bayrak: „Seine Betonung der demokratischen Politik und der rechtlichen Anerkennung zeigt eine klare Absicht zur Lösung. Die verschärfte Isolation Öcalans ist nicht nur eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte, sondern auch ein großes Hindernis für die demokratische Zukunft und den Friedensprozess in der Türkei. Diese Forderung muss beantwortet werden, indem das Imrali-Isolationsregime aufgehoben und Bedingungen geschaffen werden, unter denen Öcalan zum gesellschaftlichen Frieden beitragen kann.“
Reformprozess muss in Gefängnissen beginnen
Abschließend betonte Bayrak, dass ein Reformprozess in allen staatlichen Institutionen beginnen müsse, angefangen bei den Gefängnissen, um die Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen und gleiche Bürgerrechte für alle zu gewährleisten. Sie rief die Öffentlichkeit auf, für diese Rechtsverletzungen sensibel zu sein und den Kampf für einen demokratischen Rechtsstaat zu unterstützen.
Kranke Gefangene sollten im Krankenhaus sein
Die Abgeordnete der DEM-Partei, Dilan Kunt Ayan, sagte: „Es gibt fast 1.400 kranke Gefangene in türkischen Gefängnissen, 300 davon sind schwer krank. Wir sagen noch einmal: Krankheit und Gefängnis sind unvereinbar. Kranke Gefangene gehören in Krankenhäuser, nicht in Gefängnisse. Wir setzen diesen Kampf auf jeder Plattform fort, auf der wir präsent sind.“
Gefängnisse töten Menschen
Der IHD-Ko-Vorsitzende Hüseyin Küçükbalaban sagte: „In Einrichtungen wie F-, S-, R- und Y-Typ-Gefängnissen verlieren selbst gesunde Menschen mit der Zeit ihre Gesundheit. Nach Angaben des Justizministeriums starben allein in den ersten zehn Monaten des Jahres 2024 207 kranke Gefangene. Diese Gefängnisse bringen Menschen um.“
Hinrichtungspraktiken
Der Begriff „Hinrichtungspraktiken“ meint in diesem Zusammenhang nicht unbedingt konkret eine einzelne, formelle Tötung, sondern bezieht sich auf strukturelle und institutionalisierte Formen des Tötens oder Todgeweihtseins im Gefängnis. Insbesondere im Kontext politischer Repression, Isolationshaft (wie im Extremfall auf Imrali), und dem Umgang mit kranken Gefangenen ist der Begriff in dieser erweiterten, systemkritischen Bedeutung bezüglich der Türkei treffend und aktuell.
Vor allem gemeint ist die bewusst in Kauf genommene Todesfolge durch die Vernachlässigung medizinischer Versorgung, Überbelegung, Isolationshaft, Folter, Mangelernährung oder fehlendes Wasser. Der Tod tritt nicht sofort ein, aber das System wirkt tödlich – dies wird teils als „schleichende Hinrichtung“ bezeichnet.
Der Begriff der Hinrichtungspraktiken kann auch extralegale Hinrichtungen in Gefängnissen umfassen. Hierunter zählen der Tod Gefangener durch Gewalt von Sicherheitskräften im Gefängnis, der „zufällige“ Tod politisch Verfolgter in Haft ohne ordentliches Verfahren oder auch eine Tötung „auf dem Papier“ durch zum Beispiel vorgetäuschte Fluchtversuche.