335 Gefangene in kritischem Zustand
Der Menschenrechtsverein IHD hat einen aktuellen Bericht zu kranken Gefangenen in der Türkei veröffentlicht und darin erschütternde Zahlen präsentiert: In den Gefängnissen des Landes befinden sich mindestens 1.412 kranke Häftlinge, davon 335 in schwerwiegendem Zustand. In einer Pressekonferenz in der IHD-Zweigstelle in Amed (tr. Diyarbakır) wurden neben der Lageeinschätzung auch konkrete Forderungen an die Regierung formuliert.
Verweigerung von Daten durch das Justizministerium
Der Ko-Vorsitzende des IHD, Hüseyin Küçükbalaban, machte in seiner Einleitung deutlich, dass das Justizministerium weiterhin systematisch die Herausgabe aktueller Gesundheitsdaten verweigert. Daher basierten die vorgelegten Zahlen auf eigenen Recherchen, Besuchen, Anwaltsgesprächen, Briefwechseln und direkten Familienberichten – und deckten nur die „Spitze des Eisbergs“ ab. „Gefängnisse sind Orte, an denen Menschenrechtsverletzungen am schwerwiegendsten sind“, sagte Küçükbalaban.
Aufruf im Zeichen von Abdullah Öcalans Friedensinitiative
Besondere Aufmerksamkeit richtete Küçükbalaban auf den „Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft“ von Abdullah Öcalan vom 27. Februar. Trotz der großen Erwartungen habe der türkische Staat bislang keinen klaren Fahrplan für Friedensschritte vorgelegt. Er forderte konkrete Maßnahmen – insbesondere die Freilassung kranker Gefangener als Vertrauenssignal für die Gesellschaft. Eine gesetzliche Regelung zum sogenannten „Recht auf Hoffnung“ für lebenslang Inhaftierte und die Aufarbeitung vergangener Menschenrechtsverletzungen wie die Zwangsräumung zahlreicher kurdischer Dörfer und das Verschwindenlassen tausender Menschen in den 1990er Jahren seien ebenso notwendig, um einen echten Friedensprozess einzuleiten.
Die dramatischen Zahlen im Überblick
Laut dem aktuellen Bericht, der auf umfangreichen eigenen Erhebungen basiert, ergibt sich folgendes Bild:
▪ Gesamtzahl kranker Häftlinge: mindestens 1.412
▪ Davon schwer krank: 335
▪ Frauen: 161, Männer: 1.251
▪ Lebensunfähig ohne fremde Hilfe: 230 Gefangene
▪ Auf dauerhafte Unterstützung angewiesen: 105 Gefangene
▪ Ständiger medizinischer Kontrolle bedürfend: 188 Gefangene
▪ Amtsärztlich nicht ausreichend diagnostiziert: 517 Fälle, deren Schweregrad nicht genau ermittelt werden konnte.
Darüber hinaus leiden Dutzende Gefangene an schweren Erkrankungen wie Krebs, Herzkrankheiten, Wernicke-Korsakoff-Syndrom, Diabetes, Tuberkulose, psychischen Erkrankungen und chronisch-obstruktiven Lungenerkrankungen (COPD).
Erniedrigende Haftbedingungen verschärfen Krankheiten
Der IHD berichtet von gravierenden Missständen:
▪ Kranke Gefangene werden unter unmenschlichen Bedingungen transportiert, in kleinen Fahrzeugen, die weder im Sommer gekühlt noch im Winter beheizt sind.
▪ Fesselungszwang bei Arztbesuchen und die Missachtung der ärztlichen Schweigepflicht durch Anwesenheit von Wachen in den Behandlungsräumen sind Alltag.
▪ Viele Gefangene verweigern wegen entwürdigenden Kontrollen wie Mundraumdurchsuchungen und anderen Maßnahmen durch die türkische Gendarmerie Arztbesuche vollständig.
▪ Chronische Verzögerungen bei der Verlegung in Fachkliniken verschlechtern Gesundheitszustände erheblich.
▪ Insbesondere in Hochsicherheitsgefängnissen werden auch Schwerkranke und Behinderte in Einzelhaft gehalten, was Isolation und Gesundheitsgefahren massiv verschärft.
▪ Selbst elementare Bedürfnisse wie Zugang zu sauberem Trinkwasser, ausreichende und gesunde Ernährung sowie hygienische Haftverhältnisse werden vielen Gefangenen verwehrt.
Forderungen des IHD an Staat und Justiz
In seinem Bericht fordert der IHD eindringlich:
▪ Sofortige medizinische Behandlung oder Aussetzung der Haftstrafen für unheilbar Kranke.
▪ Anerkennung von Krankenhausberichten als Grundlage für Haftverschonungen, nicht nur Gutachten des umstrittenen Instituts für Rechtsmedizin (ATK).
▪ Abschaffung der Praxis des „Kettenzwangs“ (Handschellen bei Behandlungen) und Respektierung der Menschenwürde bei medizinischen Eingriffen.
▪ Dringende Gesetzesänderungen zur Einführung eines echten „Rechts auf Hoffnung“, auch für lebenslang Inhaftierte.
▪ Ambulante Transporte in geeigneten Fahrzeugen für Kranke – insbesondere bei schweren Erkrankungen.
Der IHD betont, dass Menschenrechte universell und nicht verhandelbar seien. Die Haftbedingungen müssten den internationalen Standards, insbesondere den Mindestgrundsätzen der Vereinten Nationen (UN) für die Behandlung von Gefangenen, die sogenannten Nelson-Mandela-Regeln, angepasst werden. Auch verweist der IHD auf Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (z.B. Ebedin Abi/Türkei), der wiederholt gravierende Verletzungen des Menschenrechts auf Gesundheit und Würde festgestellt hat.
Eine offene Wunde im Justizsystem
Der Bericht rückt die humanitäre Krise in den türkischen Gefängnissen erneut ins öffentliche Bewusstsein. Der IHD schließt seinen Report mit einem dringenden Appell: „Ein echter demokratischer Neubeginn in der Türkei ist ohne sofortige humanitäre Schritte, vor allem gegenüber den kranken Gefangenen, unmöglich. Jede Verzögerung kostet Menschenleben.“