Vor 25 Jahren wurde der Kurde Mehmet Emin Özkan aus Amed (Diyarbakir) in der Türkei als vermeintliches PKK-Mitglied wegen Mordes an einem türkischen General zu einer erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Obwohl spätestens seit 2014 auch die türkischen Strafverfolgungsbehörden von der Unschuld des heute 83-Jährigen überzeugt sind und sogar Staatsanwälte seine Entlassung forderten, weil der General von seinen eigenen Leuten getötet wurde, muss Özkan im Gefängnis bleiben. Am Freitag erlosch nun ein weiterer Funke Hoffnung darauf, dass der Mann nicht in Haft sterben muss. Das Lehr- und Forschungskrankenhaus Gazi Yaşargil stufte Özkan als haftfähig ein – trotz erheblicher gesundheitlicher Probleme. Untersucht wurde jedoch nicht seine gesundheitliche Verfassung, sondern lediglich der geistige Zustand. Die zuständige Kommission der Klinik empfahl eine „psychiatrische Behandlung“ und verwies Özkan an das rechtsmedizinische Institut Istanbul. Die dortige Untersuchung soll am Montag erfolgen. Sein Rechtsbeistand und Angehörige laufen Sturm.
Inhaftierter Sohn zur Pflege des Vaters nach Amed verlegt
In den letzten vier Wochen wurde Mehmet Emin Özkan sieben Mal aus dem D-Typ-Gefängnis in Amed in eine Klinik eingeliefert. Bilder, die ihn an ein Krankenhausbett gefesselt und in Handschellen zum Gefängnistransporter abführend zeigten, sorgten für Wut und Empörung innerhalb der kurdischen Gesellschaft. Auch jetzt, nach der positiv beschiedenen Haftfähigkeit, ist das Entsetzen wieder mit voller Wucht zurückgekehrt. Özkan wird vom Menschenrechtsverein IHD in der Liste der „schwerkranken Gefangenen“ geführt. Er leidet unter diversen Krankheiten, darunter fallen unter anderem ein Aneurysma im Gehirn, Bluthochdruck, eine Schilddrüsenerkrankung, eine Alzheimer-Demenz, die zu Gedächtnisverlust, Verwirrtheit und Desorientierung führt, Gehörverlust, Atemschwäche und eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung. Sechs Herzattacken hat Özkan bislang überlebt, vier Mal musste er eine Herzkatheteruntersuchung über sich ergehen lassen. Ein rechtsmedizinisches Institut hat bei ihm einen GdB (Grad der Behinderung) von 87 festgestellt – aber gleichzeitig seine Haftfähigkeit bescheinigt. Damit wurde auch die Ablehnung mehrerer Haftentlassungsanträge begründet. Özkan ist vollständig auf die Hilfe seiner Mitgefangenen angewiesen. Vor zwei Wochen wurde sein ebenfalls inhaftierter Sohn ins D-Typ-Gefängnis verlegt, um seinen Vater zu pflegen.
Ärzte- und Anwaltskammern appellieren an Justizministerium
Jetzt haben sich 21 zivilgesellschaftliche- und rechtliche Organisationen zusammengetan und einen gemeinsamen Appell für die Freilassung von Mehmet Emin Özkan verfasst. Unter den Unterzeichnenden der Erklärung befinden sich Rechtsanwaltskammern, Ärztekammern und Vereine der Gefangenensolidarität. „Mehmet Emin Özkans Gesundheitszustand hat schon längst eine kritische Stufe erreicht. Seit dem 17. Mai verschlechtert sich seine ohnehin schon lebensgefährliche Verfassung zusehends. Wir appellieren an das Justizministerium und die Menschenrechtskommission der türkischen Nationalversammlung: Nehmen Sie ihre Verantwortung wahr, lassen Sie Mehmet Emin Özkan nicht im Gefängnis sterben“, heißt es darin.
Warum wurde Özkan verurteilt?
Mitte Januar hatte ein Gericht in Adana einen Antrag des Rechtsbeistands von Özkan auf Aufhebung des Haftstatus verworfen. Die Fortdauer der Haft rechtfertigte das Gericht mit Blick auf den Licê-Prozess, der noch beim Kassationshof anhängig ist. Am 22. Oktober 1993 wurde in Licê, einem Landkreis der Provinz Amed, der Kommandeur der paramilitärischen Jandarma, Brigadegeneral Bahtiyar Aydın, erschossen.
Obwohl die PKK die Beteiligung an seiner Ermordung mit der Begründung ablehnte, keine Vergeltungsschläge provozieren zu wollen, die zu zivilen Opfern führen könnten, beschuldigte die Regierung die kurdische Guerilla, für den Tod von Aydın verantwortlich zu sein. Einen Tag nach dem Mord an Bahtiyar Aydın verübte das türkische Militär einen Racheakt an der Bevölkerung von Licê. Sechzehn Menschen fielen einem Massaker zum Opfer, weitere 36 Personen wurden teils schwer verletzt. Insgesamt 402 Häuser und 285 Arbeitsstätten setzte das Militär in Brand, die Zahl der Vertriebenen ist noch immer unklar.
Später kam heraus, dass Aydın von seinen eigenen Leuten erschossen worden war. Mehmet Emin Özkan, der 1996 wegen einer Bagatelle festgenommen worden war, wurde im September desselben Jahres wegen Mordes an dem Brigadegeneral zu einer erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Anklage gegen ihn beruhte im Wesentlichen auf den Aussagen eines Kronzeugen.