Vor 25 Jahren wurde im nordkurdischen Licê (Amed/Diyarbakir) der Provinzkommandeur der paramilitärischen Gendarmerie, Brigadegeneral Bahtiyar Aydın erschossen. Obwohl die PKK die Beteiligung an der Ermordung Aydıns mit der Begründung ablehnte, keine Vergeltungsschläge provozieren zu wollen, die zu zivilen Opfern führen könnten, beschuldigten türkische Staatsmedien die kurdische Guerilla, für den Tod von Aydın verantwortlich zu sein. Am 23. Oktober 1993, einen Tag nach dem Mord an Bahtiyar Aydın, wurde bekannt, dass das türkische Militär einen Racheakt an der Bevölkerung von Licê verübt hatte. 14 Zivilisten und ein Soldat fielen einem Massaker zum Opfer, weitere 36 Menschen wurden teils schwer verletzt. Insgesamt 402 Häuser und 285 Arbeitsstätten wurden vom Militär in Brand gesetzt, unzählige Menschen zwangsvertrieben.
Gericht genehmigt Anklage einen Tag vor Verjährungsfrist
20 Jahre später genehmigte die 8. Strafgerichtskammer von Diyarbakır einen Tag vor Ablauf der Verjährungsfrist eine Anklage gegen den pensionierten Stabsoffizier Eşref Hatipoğlu und Hauptmann Tünay Yanardağ – unter anderem auch wegen des Mordes an Bahtiyar Aydın. Der Brigadegeneral war also doch von seinen eigenen Leuten getötet worden. Das Verfahren wegen „fahrlässiger Tötung“, „Anstiftung zu Mord und Rebellion“ und „Gründung einer Organisation zum Begehen von Straftaten“ wurde am 16. Januar 2014 eröffnet. Die Anklageschrift fordert lebenslange Haft plus weitere 24 Jahre. Aus „Sicherheitsgründen“ wurde der Fall damals erst nach Eskişehir und anschließend nach Izmir verlegt.
Angeklagter verstorben
Einer der Angeklagten, Hauptmann Tünay Yanardağ erlag vor drei Jahren einem Herzinfarkt. Der einzig lebende Verdächtige, Eşref Hatipoğlu, ist zwar seit Juli dieses Jahres im Gefängnis. Allerdings nicht aufgrund des Verfahrens im Licê-Prozess, sondern weil er in Foça einen Autofahrer bei einem Verkehrsstreit angeschossen hat.
Urteilsverkündung vor Strafgerichtshof Izmir
Am Freitag findet vor dem Strafgerichtshof in Izmir die Urteilsverkündung statt. Seit Beginn des Prozesses waren alle Anträge der Anklage abgelehnt worden. Weder wurde den Anwält*innen der Opfer gestattet, den Tatort zu besichtigen, noch wurde einem Antrag auf Anhörung des damaligen CHP-Vorsitzenden Deniz Baykal stattgegeben, dem 1993 staatliche Stellen die Fahrt nach Licê verweigerten. Ebenfalls hat das Gericht gegen Zeugenaussagen des Journalisten Mithat Bereket, der Schwester des getöteten Brigadegenerals Birsen Aydın Fındık und des ehemaligen PKK-Kaders Şemdin Sakık gestimmt. Auch weigerte sich das Gericht, einen Antrag für eine DNA-Untersuchung zum Tod von Tunay Yanardağ zu genehmigen. Gleichermaßen wurden Anträge zwecks Identifizierung weiterer Tatverdächtiger und die Anhörung des ehemaligen türkischen Generalstabschefs İlker Başbuğ abgelehnt.
Staatsanwalt fordert Freispruch
Für Eşref Hatipoğlu fordert die Staatsanwaltschaft Freispruch. Der Anwalt Yunus Muratakan gehört zum Rechtsbeistand der Opfer und ihrer Hinterbliebenen und hat das Massaker als Kind selbst miterlebt. Er befand sich in der Grundschule von Licê, als diese mit Granaten beschossen wurde. Muratakan ruft die demokratische Zivilgesellschaft auf, den Prozess vor Ort zu verfolgen. „Im Fall von Licê geht es nicht nur um das Massaker, sondern um Dorfverbrennungen, die in den 1990er Jahren zur Tagesordnung gehörten, Hinrichtungen, die wir auch Morde unbekannter Täter nennen, die Entvölkerung der Region und um den Plan für die Beseitigung einer ganzen Stadt”.