1993 erreichte der Terror des türkischen Staates gegen die kurdische Zivilbevölkerung seinen Höhepunkt, als am 23. Oktober bekannt wurde, dass in der Kreisstadt Licê in der Provinz Amed (Diyarbakir) 16 Menschen einem Massaker zum Opfer gefallen waren – verübt vom türkischen Militär. Im Rahmen dieses Angriffs wurden weitere 36 Menschen zum Teil schwer verletzt, Hunderte Häuser und Arbeitsstätten in Brand gesetzt und unzählige Menschen zwangsvertrieben. Das Massaker ereignete sich damals kurz nach dem Tod des damaligen Brigadegenerals Bahtiyar Aydın. Der Provinzkommandeur der paramilitärischen Gendarmerie war von „Unbekannten“ erschossen worden. Obwohl die PKK die Beteiligung an der Ermordung des Brigadegenerals mit der Begründung ablehnte, keine Vergeltungsschläge provozieren zu wollen, die zu zivilen Opfern führen könnten, und offensichtlich war, dass die Gendarmerie höchstpersönlich für das Massaker verantwortlich war, beschuldigten staatliche Medien der Türkei die PKK für den Tod Aydıns. Kurz darauf startete das türkische Militär eine Operation gegen die Stadt, die als Vergeltungsschlag für den Tod des Brigadegenerals – der von seinen eigenen Leuten ermordet wurde – angesehen wird.
Am 22. Oktober 2013 genehmigte die 8. Strafgerichtskammer von Diyarbakır die Anklage gegen den pensionierten Stabsoffizier Eşref Hatipoğlu und Hauptmann Tünay Yanardağ – unter anderem wegen des Mordes an Bahtiyar Aydın – zwei Jahrzehnte nach den Ereignissen und einen Tag vor Ablauf der Verjährungsfrist. Das Verfahren wegen „fahrlässiger Tötung“, „Anstiftung zu Mord und Rebellion“ und „Gründung einer Organisation zum Begehen von Straftaten“ wurde am 16. Januar 2014 eröffnet. Die Anklageschrift fordert lebenslange Haft plus weitere 24 Jahre. Aus „Sicherheitsgründen“ war der Fall damals erst nach Eskişehir und anschließend nach Izmir verlegt worden.
Ein Angeklagter verstorben, der andere auf freiem Fuß
Einer der Angeklagten, Hauptmann Tünay Yanardağ, erlag im August 2015 bei einem Aufenthalt in Singapur einem Herzinfarkt. Der einzig lebende Verdächtige, der pensionierte Stabsoffizier Eşref Hatipoğlu, befindet sich nicht in Untersuchungshaft, sondern ist auf freiem Fuß.
Alle Anträge der Anklage abgelehnt
Heute findet die 12. Verhandlung im Licê-Prozess statt. Seit Prozessbeginn sind alle Anträge der Anklage abgelehnt worden. Weder wurde den Anwält*innen der Opfer gestattet, den Tatort zu besichtigen, noch wurde dem Antrag auf Anhörung von dem damaligen CHP-Vorsitzenden Deniz Baykal stattgegeben, dem 1993 staatliche Stellen die Fahrt nach Licê verweigerten. Ebenfalls hat das Gericht dagegen gestimmt, dass der Journalist Mithat Bereket, Birsen Aydın Fındık, Schwester des getöteten Brigadegeneral Bahtiyar Aydın und Şemdin Sakık als Zeugen aussagen und sich auch geweigert, einen Antrag für eine DNA-Untersuchung zum Tod von Tunay Yanardağ zu genehmigen. Gleichermaßen wurden Anträge zwecks Identifizierung weiterer Tatverdächtiger und die Anhörung des ehemaligen türkischen Generalstabschefs İlker Başbuğ abgelehnt.