Der 83-jährige politische Gefangene Mehmet Emin Özkan muss vorerst in Haft bleiben. Ein Antrag der Verteidigung auf Aufhebung des Haftstatus wurde am Donnerstag vom 7. Schwurgerichtshof Adana, vor dem seit Januar 2015 das Wiederaufnahmeverfahren im Fall des Demenzkranken stattfindet, abgelehnt. Menschenrechtsorganisationen in der Türkei laufen Sturm gegen die Entscheidung. Özkan wird vom IHD in der Liste der „schwerkranken Gefangenen“ geführt. Er leidet unter diversen Krankheiten, darunter fallen unter anderem ein Aneurysma im Gehirn, Bluthochdruck, eine Schilddrüsenerkrankung, eine Alzheimer-Demenz, die zu Gedächtnisverlust, Verwirrtheit und Desorientierung führt, Gehörverlust, Atemschwäche und eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung. Sechs Herzattacken hat Özkan bislang überlebt, vier Mal musste er eine Herzkatheteruntersuchung über sich ergehen lassen. Ein rechtsmedizinisches Institut hat bei ihm einen Grad der Behinderung von 87 festgestellt – aber gleichzeitig seine Haftfähigkeit bescheinigt. Damit wurde in den letzten Jahren auch immer wieder die Ablehnung von Haftentlassungsanträgen begründet. Özkan ist vollständig auf die Hilfe seiner Mitgefangenen angewiesen, seine ohnehin schon lebensgefährliche Verfassung verschlechtert sich zusehends, da ihm seit Ausbruch der Corona-Pandemie routinemäßige Pflichtkontrollen im Rahmen seiner Therapie verwehrt werden.
Sogar Staatsanwaltschaft sagt, Özkan ist unschuldig
Die Grundlage der jüngsten Entscheidung über die Fortdauer der Haft von Mehmet Emin Özkan rechtfertigte das Gericht mit Blick auf den Licê-Prozess, der noch beim Kassationshof anhängig ist. Und das, obwohl sogar die Generalstaatsanwaltschaft von der Unschuld des Mannes überzeugt ist. Özkan wurde 1996 wegen einer Bagatelle festgenommen und im September desselben Jahres als vermeintliches PKK-Mitglied wegen Mordes an einem türkischen General zu einer erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Anklage gegen ihn beruhte im Wesentlichen auf den Aussagen eines Kronzeugen.
16 Tote bei Racheakt des Militärs
Rückblick: Am 22. Oktober 1993 wurde im nordkurdischen Licê in der Provinz Amed (tr. Diyarbakir) der Provinzkommandeur der paramilitärischen Jandarma, Brigadegeneral Bahtiyar Aydın, erschossen. Obwohl die PKK die Beteiligung an seiner Ermordung mit der Begründung ablehnte, keine Vergeltungsschläge provozieren zu wollen, die zu zivilen Opfern führen könnten, beschuldigte die Regierung die kurdische Guerilla, für den Tod von Aydın verantwortlich zu sein. Einen Tag nach dem Mord an Bahtiyar Aydın verübte das türkische Militär einen Racheakt an der Bevölkerung von Licê. Sechzehn Menschen fielen einem Massaker zum Opfer, weitere 36 Personen wurden teils schwer verletzt. Insgesamt 402 Häuser und 285 Arbeitsstätten setzte das Militär in Brand, die Zahl der Vertriebenen ist noch immer unklar. Später kam heraus, dass Aydın von seinen eigenen Leuten erschossen worden war.
Mehmet Emin Özkan, Datum der Aufnahme nicht bekannt
Angeklagter verstorben
Genau 20 Jahre später genehmigte das 8. Schwurgericht Diyarbakır einen Tag vor Ablauf der Verjährungsfrist eine Anklage gegen den pensionierten Stabsoffizier Eşref Hatipoğlu und Hauptmann Tünay Yanardağ – unter anderem auch wegen des Mordes an Bahtiyar Aydın. Das Verfahren wegen „fahrlässiger Tötung“, „Anstiftung zu Mord und Rebellion“ und „Gründung einer Organisation zum Begehen von Straftaten“ wurde am 16. Januar 2014 eröffnet. Die Anklageschrift fordert lebenslange Haft plus weitere 24 Jahre. Aus „Sicherheitsgründen“ wurde der Fall damals erst nach Eskişehir und anschließend nach Izmir verlegt. Doch Yanardağ erlag 2015 einem tödlichen Herzinfarkt. Der einzig lebende Verdächtige, Eşref Hatipoğlu, war zwischenzeitlich im Gefängnis - allerdings nicht aufgrund des Verfahrens im Licê-Prozess, sondern weil er in Foça einen Autofahrer bei einem Verkehrsstreit angeschossen hat. Vor rund zwei Jahren wurde Hatipoğlu aus Mangel an Beweisen freigesprochen.
„Wir wollen nicht, dass Mehmet Emin Özkan im Gefängnis stirbt”
Vergangenen August hatten dreizehn zivilrechtliche Organisationen, darunter CISST (Zivilgesellschaft für den Strafvollzug), ÖHD (Vereinigung freiheitlicher Juristen), Ärztekammer Amed, TIHV (Menschenrechtsstiftung Türkei) und SES (Gewerkschaft der Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen), gemeinsam an die Regierung appelliert, um die Freilassung von Mehmet Emin Özkan zu erwirken. „Der Gesundheitszustand von Mehmet Emin Özkan ist auch ohne Corona extrem schlecht. Doch spätestens seit Ausbruch der Pandemie verschlimmert sich seine Lage von Tag zu Tag“, hieß es in dem offenen Brief damals. Özkan sei aufgrund seiner körperlichen Einschränkungen weder in der Lage, an sozialen Aktivitäten im Gefängnis teilzunehmen, noch könne er Angehörige empfangen. Nur wenn er von Mitgefangenen in den Besuchsraum getragen werde, sei es ihm möglich, Kontakt zu Familienmitgliedern herzustellen. Da wegen der Coronavirus-Pandemie strikte Beschränkungen in den Haftanstalten gelten, sei dies mittlerweile auch nicht mehr möglich. „Wir wollen nicht, dass Mehmet Emin Özkan im Gefängnis stirbt. Um eine fachgerechte ärztliche Behandlung für ihn zu ermöglichen, fordern wir die sofortige Aussetzung seiner Haftstrafe.“ Der Appell stieß bislang auf taube Ohren.