Seit mittlerweile 24 Jahren befindet sich Mehmet Emin Özkan in der Türkei unschuldig im Gefängnis. Im September 1996 wurde der heute 82-jährige als vermeintliches PKK-Mitglied wegen Mordes an einem türkischen General zu einer erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Obwohl spätestens seit 2014 auch bei den Justizbehörden die Unschuld des Mannes bekannt ist, muss er trotzdem in Haft verbleiben. Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften und Gefangenenhilfsvereine sind besorgt um den Zustand von Özkan und fordern seine sofortige Freilassung.
Rückblick: Am 22. Oktober 1993 wurde im nordkurdischen Licê in der Provinz Amed (türk. Diyarbakir) der Provinzkommandeur der paramilitärischen Gendarmerie, Brigadegeneral Bahtiyar Aydın erschossen. Obwohl die PKK die Beteiligung an der Ermordung des Brigadegenerals mit der Begründung ablehnte, keine Vergeltungsschläge provozieren zu wollen, die zu zivilen Opfern führen könnten, beschuldigte die Regierung die kurdische Guerilla, für den Tod von Aydın verantwortlich zu sein. Einen Tag nach dem Mord an Bahtiyar Aydın verübte das türkische Militär einen Racheakt an der Bevölkerung von Licê. Sechzehn Menschen fielen einem Massaker zum Opfer, weitere 36 Personen wurden teils schwer verletzt. Insgesamt 402 Häuser und 285 Arbeitsstätten setzte das Militär in Brand, die Zahl der Vertriebenen ist noch immer unklar. Später kam heraus, dass Aydın von seinen eigenen Leuten erschossen worden war.
Özkan leidet an diversen schweren Erkrankungen
Mehmet Emin Özkan wird vom Menschenrechtsverein IHD in der Liste der „schwerkranken Gefangenen“ geführt. Er leidet unter diversen Krankheiten, darunter fallen unter anderem ein Aneurysma im Gehirn, Bluthochdruck, eine Schilddrüsenerkrankung, eine Alzheimer-Demenz, die zu Gedächtnisverlust, Verwirrtheit und Desorientierung führt, Gehörverlust, Atemschwäche und eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung. Sechs Herzattacken hat Özkan bislang überlebt, vier Mal musste er eine Herzkatheteruntersuchung über sich ergehen lassen. Ein rechtsmedizinisches Institut hat bei ihm einen GdB (Grad der Behinderung) von 87 festgestellt – aber gleichzeitig seine Haftfähigkeit bescheinigt. Damit wurde auch die Ablehnung mehrerer Haftentlassungsanträge begründet. Özkan ist vollständig auf die Hilfe seiner Mitgefangenen angewiesen, seine ohnehin schon lebensgefährliche Verfassung verschlechtert sich zusehends, da ihm seit bald einem halben Jahr routinemäßige Pflichtkontrollen im Rahmen seiner Therapie verwehrt werden. Die Gefängnisleitung begründet dies mit der Corona-Pandemie, schafft aber auch keine alternativen Behandlungsmöglichkeiten.
Wiederaufnahmeverfahren läuft bereits
„Der Gesundheitszustand von Mehmet Emin Özkan ist auch ohne Corona extrem schlecht. Doch spätestens seit Ausbruch der Pandemie verschlimmert sich seine Lage von Tag zu Tag“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung von insgesamt dreizehn Organisationen, darunter CISST (Zivilgesellschaft für den Strafvollzug), ÖHD (Vereinigung freiheitlicher Juristen), Ärztekammer Amed, TIHV (Menschenrechtsstiftung Türkei) und SES (Gewerkschaft der Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen), die am Montag veröffentlicht wurde. Özkan sei aufgrund seiner körperlichen Einschränkungen weder in der Lage, an sozialen Aktivitäten im Gefängnis teilzunehmen, noch könne er Angehörige empfangen. Nur wenn er von Mitgefangenen in den Besuchsraum getragen werde, sei es ihm möglich, Kontakt zu Familienmitgliedern herzustellen. Da wegen der Coronavirus-Pandemie strikte Beschränkungen in den Haftanstalten gelten, sei dies mittlerweile auch nicht mehr möglich. „Hinzu kommt, dass der Prozess gegen Mehmet Emin Özkan neu aufgerollt wurde“, unterstreichen die Organisationen. Die Chancen stünden gut, dass die Aufhebung des ursprünglichen Urteils und stattdessen ein Freispruch erlangt wird. Verbleibe er weiterhin unschuldig in Haft, steige die Gefahr einer Ansteckung mit dem Coronavirus. „Wir wollen nicht, dass Mehmet Emin Özkan im Gefängnis stirbt. Um eine fachgerechte ärztliche Behandlung für ihn zu ermöglichen, fordern wir die sofortige Aussetzung seiner Haftstrafe.“