Die türkische Polizei hat erneut die wöchentliche Mahnwache der Samstagsmütter in Istanbul verhindert und Festnahmen durchgeführt. Nach Angaben der Initiative sind mindestens 47 Mitglieder und Unterstützende der Samstagsmütter in Gewahrsam genommen worden. Unter ihnen sind auch Eren Keskin, Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, Ümit Efe von der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV), der Journalist Arat Dink und die Juristin Meriç Eyüboğlu vom Verein für Medien und Recht (MLSA).
Platz seit den Morgenstunden weiträumig abgesperrt
Der Galatasaray-Platz vor dem gleichnamigen Gymnasium im zentralen Stadtteil Beyoğlu, wo heute das 957. Sit-in der Samstagsmütter stattfinden sollte, war seit dem frühen Morgen weiträumig durch Barrieren und Gitter abgesperrt. Die Bereitschaftspolizei war mit einem Großaufgebot im Einsatz und verhinderte, dass sich die Gruppe dem Platz, der als Symbolort für den Kampf um Menschenrechte in der Türkei gilt, nähern konnte. Als Begründung wurde ein Demonstrationsverbot herangezogen, das vom Landratsamt Beyoğlu erteilt worden sei. Eren Keskin protestierte gegen das Vorgehen. Die Menschenrechtlerin wies auf ein Urteil des Verfassungsgerichts hin, das Versammlungsverbote für die Samstagsmütter für rechtswidrig erklärt hatte.
Keskin: Landrat ignoriert höchstes Gericht
„Entscheidungen des Verfassungsgerichts sind endgültig und für alle Organe der Legislative, Exekutive und Judikative bindend. Alle Akteure, die öffentliche Gewalt ausüben, müssen sich an diese Entscheidungen halten. Weder Gouverneur noch Landrat, und auch nicht die Polizei, dürfen sich über das Verfassungsgericht und seine Entscheidungen hinwegsetzen. Tun sie es doch, machen sie sich schwerwiegenden Verstößen gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und die Verfassungsordnung schuldig“, betonte Keskin. „Wir fordern, dass das Recht akzeptiert wird.“
Anzeigen wegen Nichtbefolgens behördlicher Anordnungen
Eine Liste mit den Namen aller Festgenommenen wurde von den Samstagsmüttern wie folgt vorgelegt: Hanife Yıldız, İkbal Eren, Besna Tosun, Maside Ocak, Ayşe Gülen Eyi, Mikail Kırbayır, İrfan Bilgin, Ali Tosun, Hüseyin Ocak, Eren Keskin, Gülseren Yoleri, Ümit Efe, Hüseyin Küçükbalaban, Sevinç Koçak, Leman Yurtsever, Meriç Eyüboğlu, Aslı Takanay, Gülendam Özdemir, İsmail Yücel, Cüneyt Yılmaz, Fırat Akdeniz, Taylan Bekin, Sema Barbaros, Ahmet Ergin, Zeynep Çelik, Ömer Kavran, Deniz Aytaç, Güliz Sağlam, Feride Eralp, Rojda Aksoy, N. Evrim Şerifoğlu, Evrim Gürenin, Aysun Çegar, Songül Sakin Öncel, Şevval Bülent Durmagit, Asel Bayram, Ezgi Karakuş, Dilek Başalan, Aylin Karakaş, Selin Top, Atike Eski, Esmanur Yıldız, Davud Arslan, Ekinsu Devrim Danış, Hünkar Yurtsever, Arat Dink, Hatice Onaran. Sie alle erwartet nun eine Anzeige wegen Nichtbefolgens behördlicher Anordnungen.
Synonym für das Schicksal der Opfer des „Verschwindenlassens”
1995 gingen Frauen in Istanbul zum ersten Mal auf die Straße, um analog zu den argentinischen „Madres de la Plaza de Mayo” auf festgenommene und dann verschwundene Verwandte in den 1980er und 1990er Jahren aufmerksam zu machen. Zwischen 1999 und 2009 mussten die Samstagsmütter ihre wöchentlichen Mahnwachen aussetzen, da die Polizei die Versammlungen regelmäßig auflöste. Seit einem vom Innenministerium angeordneten Großangriff auf die Samstagsmütter im Sommer 2018 ist der Galatasaray-Platz für die Initiative eine Sperrzone. Dies aber steht im Widerspruch zum Recht auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, urteilte der türkische Verfassungsgerichtshof am 22. Februar 2023 und verwarf den Einwand des Ministeriums, das den „Schutz der öffentlichen Ordnung“ durch die Samstagsmütter bedroht sieht. „Jedermann hat das Recht, ohne vorherige Erlaubnis an unbewaffneten und friedlichen Versammlungen und Demonstrationen teilzunehmen“, heißt es in Artikel 34 der türkischen Verfassung, gegen den die Sicherheitsbehörden mit ihrer Verbotsverfügung für die gewaltsam aufgelöste Aktion der Samstagsmütter im August 2018 und alle folgenden verstoßen haben. Die Blockade des Platzes sei damit hinfällig. Seit dem 8. April 2023 nutzt die Initiative nicht mehr ihren alternativen Kundgebungsplatz vor dem IHD-Büro, sondern geht wieder auf die Einkaufsmeile Istiklal Caddesi, um auf dem Galatasaray-Platz zu protestieren. Die Behörden ignorieren das Urteil und gehen die 17. Woche in Folge gewaltsam gegen die Samstagsmütter vor.