Salih Muslim: Die PDK begeht unverhohlen Hochverrat

Der PYD-Vorsitzende Salih Muslim kritisiert das internationale Schweigen zu den türkischen Chemiewaffenangriffen und die negative Rolle der PDK.

Der Ko-Vorsitzende der Partei der Demokratischen Einheit (PYD), Salih Muslim, kritisiert im ANF-Interview die internationale Haltung gegenüber den Kriegsverbrechen der türkischen Armee in den Medya-Verteidigungsgebieten und Rojava und wirft den Staaten Interessenspolitik vor.


Wie bewerten Sie die Zunahme der Einsätze chemischer und anderer international geächteter Waffen durch die türkische Armee?

Werfen wir zunächst einen Blick auf die Politik der Türkei gegenüber Kurdinnen und Kurden. Der türkische Faschismus verfolgte von Anfang an eine Ausrottungspolitik gegenüber dem kurdischen Volk. In der Vergangenheit wurde es nicht offen gesagt, aber jetzt wird das ganz klar geäußert. Früher sagte man, es sei eine Frage der Existenz. Was bedeutet diese Frage der Existenz? Wenn es Kurden gäbe oder wenn sie irgendeinen Status hätten, das heißt wenn Kurden existierten, bedeute das den Niedergang der Türkei. Betrachten wir es einmal so: Die Vernichtung der Kurdinnen und Kurden erfolgt nicht allein durch Krieg, nicht nur durch Gewalt. Die Vernichtung wurde immer zuerst mit „weichen“ Mitteln umgesetzt, mit Maßnahmen wie Assimilierung, Zwangsmigration, gezielter Verarmung, Einschränkung des Lebens und Vertreibung. Und auch das Verhindern jeglicher politischer Arbeit ... sechs Parteien wurden in der Türkei verboten. Was haben diese Parteien gemacht? Haben sie zur Waffe gegriffen? Nein. Sie haben sich seit den 1990er Jahren politisch mit der kurdischen Frage beschäftigt. Der Staat hat sowohl politische als auch diplomatische Wege blockiert. Es wurden auch die sozialen und kulturellen Wege geschlossen, so dass nur noch ein Weg blieb: die Guerilla.

Die Guerilla ist ein legitimes Mittel zur Verteidigung des kurdischen Volkes. Was soll man denn machen, wenn alle anderen Wege verschlossen werden und man existenziell bedroht ist? Man wird sich verteidigen. Die Existenz der Guerilla an sich ist bereits ein Mittel der legitimen Verteidigung. Es war nie etwas anderes. Die Guerilla war nie in der Lage, die türkische Armee zu besiegen. Sie kann nur ihre eigenen Regionen und Dörfer verteidigen Das türkische Regime glaubt, dass nur noch die Guerilla übrig ist. Deshalb greift es sie so brutal an. Wir sehen das deutlich. Damit ging es schon zu Beginn der 1990er Jahre los.

Es kann aber nicht gegen eine ideologische und prinzipientreue Kraft gekämpft werden, die Millionen auf die Straßen bringt. Das ist seit 1984 [dem ]Beginn des bewaffneten Kampfes der PKK klar. Der Guerillawiderstand wächst. Es gibt politischen, sozialen und wirtschaftlichen Druck auf die Menschen. Infolgedessen findet ein Übergang zur legitimen Selbstverteidigung statt. Die Guerilla wird ihr Volk und seine Existenz verteidigen. Wie sehr auch versucht wurde, die Guerilla einzugrenzen, so sehr sind alle daran gescheitert. Als der erhoffte Erfolg gegen die Guerilla nicht erzielt wurde, griff man zu den grausamsten Mitteln. Der türkische Staat hält sich nicht an irgendwelche Regeln. Wir nennen das Kriegsverbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Türkei hat solche Verbrechen seit den 1990er Jahren verübt.

Einsatz chemischer Waffen in Rojava wurde nicht untersucht“

Der türkische Staat hat zuvor auch in Rojava chemische Waffen eingesetzt. Warum gibt es dagegen so wenig Proteste?

Richtig, auch in Rojava wurden chemische Waffen eingesetzt. 2018 wurden sie in Efrîn benutzt. Wir schrien laut, aber niemand gab einen Laut von sich. Niemand hat etwas unternommen, um das zu untersuchen. 2019 wurden chemische Waffen in Serêkaniyê verwendet. Die Opfer reisten nach Europa und ließen sich die Verletzungen attestieren. Aber wieder wurde geschwiegen. Bei den aktuellen Angriffen ist es genauso. Es ist, als hätte man die letzte Kraft der Kurdinnen und Kurden in die Enge getrieben und könnte nun alles machen. Und die ganze Welt schweigt.

Aber es gibt einen Punkt: Wenn das anderswo passieren würde, würde sich die ganze Welt erheben. Warum gibt es dann keine solchen Reaktionen gegenüber der Türkei? Was macht die Türkei? Sie tritt die Menschheit, die Staaten und das Völkerrecht mit Füßen. Aber niemand steht auf und stellt sich dagegen. Warum? Die internationalen Beziehungen, die Beziehungen zwischen den Staaten, beruhen auf Interessenbalancen. Die Türkei nutzt das sehr gut aus. Aufgrund ihrer geostrategischen Lage setzt sie dies sowohl gegen Europa als auch gegen andere Mächte ein. Deshalb ziehen sie es vor, zu schweigen. Wissen sie denn nicht, dass diese Dinge seit den 1990er Jahren bekannt sind? Wissen sie nicht, dass die hier verwendeten Waffen zum Inventar der NATO gehören? Sie wissen es. Aber sie schweigen. Aus irgendeinem Grund ist die Existenz des kurdischen Volkes für sie kein Thema. Diejenigen, die von Demokratie sprechen, scheinen zu glauben, dass dies nicht für das kurdische Volk gilt.

Es ist unmöglich diesen Schmerz zu vergessen“

Die HPG gab die Identitäten von 17 durch chemische Waffen gefallenen Guerillakämpfer:innen bekannt. Was sagen Sie zu dem Schweigen von Parteien wie der südkurdischen PDK?

Nach den uns bisher vorliegenden Informationen sind 47 Guerillakämpfer:innen durch diese Chemiewaffeneinsätze gefallen. Der jüngste Vorfall, die Bekanntgabe des Todes von 17 Kämpfer:innen und die Verbreitung von Aufnahmen von sterbenden Kämpfer:innen haben das gesamte kurdische Volk aufgerüttelt. Die 17 gefallenen Guerillakämpfer:innen stammten aus allen Teilen Kurdistans. Sie sind die ehrenwertesten Kinder Kurdistans. Sie gingen dorthin, um ihre Ehre und Würde zu schützen. Gegen sie wurde ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Niemand sollte schweigen, unser Schmerz ist wirklich groß. Deshalb sprechen wir dem kurdischen Volk unser Beileid aus. Es ist nicht möglich, diesen Schmerz zu vergessen. Wir werden unser Bestes tun.

Diese Angriffe sind wahrhaft unmenschlich. Die türkische Armee verstößt gegen alle internationalen Konventionen. Es handelt sich um Kriegsverbrechen gegen die Menschlichkeit. Warum also kommt der türkische Staat mit all dem davon? Es werden nicht einmal Ermittlungen eingeleitet. Einige Leute wollten sich freiwillig dorthin begeben, um die Angriffe zu untersuchen. Doch die PDK verhinderte dies. Nicht nur die Guerilla ist betroffen, sondern auch die Krankenhäuser in der Region sind voll. Die Opfer von Chemiewaffen werden in den dortigen Krankenhäusern heimlich behandelt. Sie werden daran gehindert, sich mit anderen zu treffen. Wir verstehen den türkischen Staat, aber was ist mit den anderen Kurden? Warum schweigen sie, wenn so etwas ihrem Volk in ihren Regionen, in ihrer Heimat widerfährt? Sie schweigen, als ob nichts geschehen wäre oder als ob es in einem anderen Teil der Welt geschähe. Das kurdische Volk ist wütend darüber. Außerdem wurden vor einiger Zeit 1.200 Gasmasken an die Guerilla geliefert. Sie wollten damit niemanden bekämpfen oder töten, sondern sich vor chemischen Waffen schützen. Die PDK konfiszierte diese. Die Mutter einer gefallenen Guerillakämpferin sagte: „Wenn meine Tochter diese Masken bekommen hätte, wäre sie nicht gefallen.“ Wenn wir all dies in Betracht ziehen, können wir verstehen, wie brutal dieser Angriff ist.

Die einzige Sorge der PDK ist, wieviel Öl sie verkauft und wieviel Geld sie verdient. Die Würde des kurdischen Volkes ist ihr gleichgültig. Wenn es eine demokratische Wahl gäbe, würde sie bei der kurdischen Bevölkerung null Prozent erhalten. Sie begeht unverhohlenen Hochverrat. Wie können diejenigen, die dies tun, gegenüber der internationalen Gemeinschaft das Kurdentum vertreten? Sie kommen ihrer humanitären Pflicht nicht nach. Das ist eine große Schande. Es ist eine Schande, dass der MIT dort ist. Da muss etwas getan werden. Die Guerillakämpferinnen und -kämpfer schützen auch die PDK, aber sie öffnet dem Feind die Tür.

Die PDK verschleiert die Verbrechen des Feindes“

Eine ähnliche Haltung hatte die PDK bereits nach dem türkischen Massaker an picknickenden Tourist:innen in Zaxo eingenommen.

Ja. Damals hat der Irak die Welt in Aufruhr versetzt. Die irakische Regierung wandte sich an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Danach fuhr die PDK nach Bagdad, ging zu den Familien und versuchte, sie zum Schweigen zu bringen. Sie sagte den Opferangehörigen: „Geht nicht zu den Vereinten Nationen. Wir geben euch, was ihr wollt.“ So wurde versucht, sie zum Schweigen zu bringen. Täglich werden so viele Menschen in so vielen Ländern und Städten getötet. Wenn die Tötung von Arabern Proteste hervorruft, versucht man, sie zum Schweigen zu bringen. Heute werden auch ihre Geschwister umgebracht. Aber die PDK schweigt. Ist das nicht eine Schande? Wem zuliebe tut sie das? Warum vertuscht sie die Verbrechen der Feinde? Diese Realität muss jetzt gesehen werden. Wir überlassen diese Tatsachen dem Ermessen des kurdischen Volkes.

Warum gibt es auch keine Äußerungen im südkurdischen Parlament und von den anderen Kräften?

Wenn man von einem Parlament Kurdistans spricht, dann fällt es schwer, nicht zu lachen. Dort werden die [von der PDK/Türkei] gewünschten Personen installiert. Das Parlament Kurdistans hat keinen eigenen Willen. Wer seine Stimme erhebt, wird auf offener Straße umgebracht. Die Menschen sind eingeschüchtert, niemand sagt etwas.

Wenn es um Kurden geht, dann schweigt die Welt“

Und was machen Sie als PYD angesichts dieser Situation?

Wir schreien es von morgens bis abends heraus, wir sprechen mit allen, die wir treffen, über diese Themen. Wir sagen ihnen ganz offen, dass sie Komplizen sind. Sie alle sind Komplizen beim Einsatz von Drohnen, chemischen Waffen und taktischen Nuklearwaffen. Wer stellt sie her? Die Türkei verfügt nicht über die Macht und das Know-how, dies zu tun. Jemand hat sie ihnen also gegeben. Die Türkei kann das nicht ohne ihre Zustimmung der internationalen Mächte tun, also sind sie auch Komplizen. Warum gelten die Regeln der NATO nicht für die Türkei? Warum kommt die Türkei mit jedem Verbrechen davon? Wenn es um die kurdische Frage geht, werden beide Augen zugedrückt. Ich denke, es hängt von der Öffentlichkeit ab, sie zumindest dazu zu bringen, mit dieser Praxis aufzuhören. Wir werden uns verteidigen, wo immer wir sind, in allen vier Teilen Kurdistans, denn wir haben es mit einem Feind zu tun, so wie es ihn in der Geschichte noch nie gegeben hat. Wir werden auf jeden Fall Widerstand leisten, um unsere eigene Existenz zu schützen, und das ist es, was unser gesamtes Volk tun muss.