Besê Hozat bewertet Entwicklungen in Iran, Irak und Syrien

Die KCK-Vorsitzende Besê Hozat bewertet im Interview die aktuellen Entwicklungen in Iran, Irak und Syrien.

Besê Hozat, Ko-Vorsitzende des Exekutivrats der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) hat sich in einer Sondersendung bei Medya Haber zu aktuellen Themen geäußert. Wir veröffentlichen einen Ausschnitt des ausführlichen Interviews, in dem es um die Entwicklungen in Iran, Irak und Syrien geht.

Der von kurdischen Frauen angeführte Widerstand in Iran geht weiter. Menschen mit unterschiedlichen Ansichten und Ethnien haben sich unter dem Slogan „Jin, Jiyan, Azadî" [Frau, Leben, Freiheit] zusammengeschlossen. Ihre Bewegung ist die Urheberin dieses Slogans. Wie beurteilen Sie die Proteste im Iran?

Alle iranischen Frauen und Völker haben sich um Jina Amini versammelt. Seit über einem Monat gibt es nun einen Aufstand. Das kann man fast als einen Zustand der Rebellion bezeichnen. Das ist ein Novum in der jüngeren Geschichte. Einen Aufstand dieses Ausmaßes und dieser Qualität hat es in Iran noch nicht gegeben. Die Frauen haben diesen Aufstand in seiner Qualität gestärkt. Die iranische Gesellschaft ist eine matriarchalische Gesellschaft. Perser und Kurden sind Völker mit sehr engen Beziehungen. Sie lebten Hunderte und Tausende von Jahren unter demselben Dachverband zusammen und teilten sich viele Jahre lang die Führung. Auch ihre Kulturen und Traditionen stehen sich sehr nahe. Daher haben persische und kurdische Frauen viele Gemeinsamkeiten. In Iran gibt es zwar Rassismus, Nationalismus und religiösen Fanatismus, aber sie sind schwach. Die soziale Kultur ist viel stärker.

Jin, Jiyan, Azadî“ ist mehr als ein Slogan

Die Gesellschaft hat eine starke demokratisch-revolutionäre Ader. Es ist nicht verwunderlich, dass der aktuelle Aufstand so lange andauert, von so hoher Qualität ist und von dem Slogan „Jin, Jiyan, Azadî" geprägt ist. Dieser Slogan ist in der iranischen Gesellschaft auf Resonanz gestoßen. Frauen, Männer, Junge, Alte und Kinder haben sich diese Devise zu eigen gemacht, sie wird in allen Sprachen hervorgebracht. Es ist wahr, dass Rêber Apo [Abdullah Öcalan] diese Losung entwickelt hat. Sie stellt die Essenz der Philosophie der Freiheit von Frauen dar und ist sozusagen eine verfeinerte Version des Frauenparadigmas. „Jin, Jiyan, Azadî“ ist mehr als ein Slogan. Diese Worte haben eine Tiefe, die über einen bloßen Slogan hinausgeht. Sie sind die verfeinerte Form der Freiheitsphilosophie, des Paradigmas der Demokratischen Nation, der Demokratie, der Ökologie und der Freiheit von Frauen. Daher stellt dieser Slogan tatsächlich eine Philosophie dar.

Vom ersten Tag des Aufstandes an sind Frauen und Männer in allen Städten Irans auf die Straße gegangen und haben die Parole „Jin, Jiyan, Azadî" gerufen. Die Männer haben sich auf sehr spektakuläre Weise auf die Seite der Frauen gestellt. Das ist das Ergebnis der Merkmale der matriarchalischen Kultur. All dies ist sehr wichtig. Dieser Aufstand wird sich weiter verstärken. Der Slogan „Jin, Jiyan, Azadî" verändert sowohl die Männer als auch die Gesellschaft. Er hat sich in der ganzen Welt verbreitet. Die Proteste auf der ganzen Welt und in allen Ländern des Nahen Ostens finden unter der Losung „Jin, Jiyan, Azadî" statt. Ein Leben, das nicht auf freien Frauen basiert, ist ein Leben in Sklaverei. Das Leben ist nur dann ein Leben im eigentlichen Sinne, wenn es auf freien Frauen beruht. Das ist es, was dieser Slogan ausdrückt. Deshalb muss Iran auf die Forderungen der Frauen, der Gesellschaft und des Volkes reagieren.

Die iranische Gesellschaft fordert Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit

Es wäre nicht richtig, diesen Aufstand nur als das Ergebnis von Provokationen ausländischer Mächte oder bestimmter Organisationen zu verstehen. Dies würde nicht zu gesunden Schlussfolgerungen führen. Natürlich mag es diejenigen geben, die diesen Aufstand ausnutzen und für ihre eigenen Interessen verwenden wollen. Auch die USA, Israel, Europa und die Türkei könnten sich dies zunutze machen wollen. Was haben sie zum Beispiel aus dem Arabischen Frühling gemacht? Aber die Proteste der Frauen und der Gesellschaft auf diese Weise zu verstehen, wäre mit der Realität nicht vereinbar. Die Frauen und die iranische Gesellschaft fordern Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit. In Iran gibt es schwere Unterdrückung, nicht nur gegen das kurdische Volk, sondern gegen alle ethnischen Identitäten. Und dagegen protestieren die Menschen. Sie alle fordern Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie. Sie wollen eine demokratische Rechtsstaatlichkeit. Staaten, die sich nicht entsprechend verändern und umgestalten, sind mit ihrer eigenen Auflösung konfrontiert.

Die politische Krise im Irak scheint sich nach der Wahl des neuen Präsidenten etwas beruhigt zu haben. Abdul Latif Raschid hat Ministerpräsident al-Sudani mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt. Welche Auswirkungen werden diese Entwicklungen auf Kurdistan und die Region haben?

Der Irak befindet sich schon seit langem im Chaos. Der Nationalstaat und das fünftausend Jahre alte Staatssystem sind im Irak zerstört worden. Aus diesem Zusammenbruch ist ein riesiges Chaos entstanden. Wer auch immer kommt, kann keine stabile Verwaltung aufbauen. Das ist nichts Neues. Es gibt auch Interventionen von externen Mächten. Viele Mächte führen hier einen Krieg um die Vorherrschaft. Der Irak ist seit Jahrzehnten Schauplatz eines Hegemoniekriegs zwischen Iran und den USA. Großbritannien, andere europäische Länder und viele andere Staaten, insbesondere die Türkei, mischen sich in den Irak ein. Die Türkei organisiert die Turkmenen auf der Grundlage ihrer eigenen Interessen und vertieft damit das Chaos. Sie hat Bashiqa [bei Mossul] zu ihrer eigenen Militärbasis gemacht. Sie mischt den Irak politisch, wirtschaftlich und militärisch auf.

Das Chaos im Irak wird anhalten

Dr. Latif Raschid ist nun zum Präsidenten gewählt worden, und wir möchten ihn nochmals beglückwünschen. Wir glauben, dass er eine positive Rolle spielen wird. Es ist wichtig, dass er eine Rolle bei der Lösung der Probleme zwischen Bagdad und Südkurdistan auf demokratischer Grundlage, bei der Überwindung der Krise und des Chaos in Bagdad und bei der Demokratisierung des Irak spielt. Darüber hinaus ist es wichtig, dass der irakische Staat eine klare Position gegen die neoosmanische und expansionistische Besatzungspolitik des türkischen Staates bezieht. Es ist sehr wahrscheinlich, dass unter der Präsidentschaft al-Sudanis eine neue Regierung gebildet wird, aber es sieht so aus, als würde diese Regierung nicht lange bestehen. Nach der Bildung einer neuen Regierung wird die chaotische Situation im Irak nicht leicht zu überwinden sein. Die Intensität der Konflikte in Bagdad wird vielleicht etwas abnehmen, aber das Chaos im Irak insgesamt wird anhalten. Denn jeder wird die Regierung nach seinen eigenen Interessen formen wollen. Die USA werden versuchen, sie dazu zu bringen, im Sinne ihrer eigenen Politik zu handeln, so wie es Iran und die Türkei im Hinblick auf ihre politischen Ziele tun werden.

Auch die Haltung Sadrs ist wichtig. Er hat seine Haltung sehr deutlich gemacht, indem er sagte, er werde sich nicht an dieser Regierung beteiligen. Sadr wird ernsthaften Druck auf die Regierung ausüben, indem er die Unterstützung der Bevölkerung um sich schart. Daher wird es nicht leicht sein, Stabilität zu erreichen. Die Lösung im Irak ist ein demokratisches System, ein demokratisch-konföderales irakisches System auf der Grundlage autonomer Regionen. Die Lösung ist eine demokratische irakische Verwaltung. Nur ein solches System kann die Probleme im Irak lösen.

In Syrien ist Efrîn an die Hayat Tahrir al-Sham – früher bekannt als al-Nusra – übergeben worden, die Gruppierung begeht weiterhin alle Arten von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auch die Angriffe des türkischen Staates und seiner islamistischen Stellvertreter in Nord- und Ostsyrien gehen weiter. Das gilt auch für den Widerstand gegen sie. Wie bewerten Sie die Situation?

Die Lage in Nord- und Ostsyrien muss sehr gut eingeschätzt werden. Bei den Gesprächen in Astana und Sotschi wurden Beschlüsse gefasst, um Ankara und Damaskus einander näherzubringen. Sowohl Iran als auch Russland übten in dieser Frage Druck auf die Türkei aus. Infolgedessen hat die Türkei begonnen, eine sanftere Sprache zu verwenden. Danach wurden die Treffen zwischen den Geheimdiensten der beiden Länder [Türkei und Syrien] häufiger. Es gab sogar Gespräche über die Möglichkeit von Gesprächen zwischen Erdoğan und Assad. Auf diese Weise wurde versucht, die seit elf Jahren andauernden Spannungen zwischen Damaskus und Ankara abzubauen. Kürzlich gab es auch ein Treffen zwischen Putin und Erdoğan und Gespräche mit der NATO.

Die Türkei will Rojava und Südkurdistan annektieren

Dann gab es ein Treffen mit Biden, auf das verschiedene Erklärungen folgten. Die Türkei will mit Unterstützung Irans, Russlands, der USA und der NATO Nord- und Ostsyrien zerstören. Sie will in diesem Gebiet einen Staat für islamistische Stellvertreter errichten. Natürlich sagt sie Russland und Iran nicht, dass sie einen solchen islamistischen Stellvertreterstaat errichten wird, sondern verweist stattdessen auf die Autonomieverwaltung als das Problem. Die Türkei sagt, wenn Russland und Iran sie in dieser Frage unterstützen, kann sie einige Zugeständnisse in Bezug auf die Ukraine, Idlib und Assad machen. Das ist die Botschaft, die die Türkei kürzlich an Russland und Iran gerichtet hat. Aber der eigentliche Plan des türkischen Staates ist es, den Misak-ı Milli [Nationalpakt] umzusetzen, das heißt er will Südkurdistan und Rojava annektieren. Und das tut er, indem er einen Völkermord an den Kurdinnen und Kurden durchführt.

Wir können die jüngsten Entwicklungen in Efrîn nicht losgelöst von diesem breiteren Kontext beurteilen. Es hat viele Treffen mit Russland und den USA hinter verschlossenen Türen gegeben, und es gibt weitere, die nicht öffentlich gemacht wurden. Wir können den Einmarsch von al-Nusra in Efrîn nicht als einen Plan der Türkei allein verstehen, unabhängig von Russland oder den USA. Viele schmutzige Verhandlungen haben hinter verschlossenen Türen stattgefunden. Seit einem Jahr versucht der türkische Staat, den Völkermord an den Kurdinnen und Kurden zu vollenden. Wir wissen das sehr gut. Wir wissen sehr genau, dass der türkische Staat einen Plan hat, um sein Ziel Misak-ı Milli zu erreichen, indem er den Völkermord durchführt. Er hat seine Innen- und Außenpolitik vollständig auf die Erreichung dieses Ziels ausgerichtet. Um diesen Plan zu verwirklichen, verkauft er die Ressourcen der Türkei an alle.

Internationale Unterstützung für die Pläne der Türkei

Die Ankunft von al-Nusra [in Efrîn] ist ein Plan der Türkei, aber es steckt auch internationale Unterstützung dahinter. Wir müssen zum Beispiel das Vorgehen Russlands gut verstehen. Russland hat einige Stützpunkte islamistischer Stellvertreterkräfte in der Region zwischen Azaz und Efrîn bombardiert. Insbesondere die Türkei und Russland haben bestimmte Verhandlungen geführt. Es gibt einige islamistische Stellvertretergruppen, die nicht unter der Kontrolle der Türkei stehen. Diese Gruppen sind sehr unzufrieden mit den Beziehungen zwischen der Türkei und Damaskus. Die islamistischen Stellvertretergruppen, die die Türkei bisher aufgebaut, unterstützt, ausgebildet und ausgerüstet hat, wollen nicht, dass Damaskus und die Türkei engere Beziehungen zueinander aufbauen. Sie sind durch diese neue Situation sehr beunruhigt. Diese Gruppen bereiten der Türkei Kopfzerbrechen. Sie könnten in der Zukunft eine große Gefahr für die Türkei darstellen und sich sogar entschließen, gegen die Türkei zu kämpfen. Die Türkei hat große Angst vor dieser Möglichkeit.

Die jüngsten Angriffe Russlands auf diese islamistischen Stellvertretergruppen sind nicht unabhängig von der Politik der Türkei. Die Türkei bringt Russland dazu, sie anzugreifen. Wenn die Türkei sie selbst angreift, wird dies nur eine unmittelbare Reaktion dieser islamistischen Stellvertreter provozieren, Chaos verursachen und die Türkei in einen Konflikt mit ihnen zwingen. Andererseits bringt die Türkei auch al-Nusra dazu, diese islamistischen Stellvertretergruppen anzugreifen. Alle Gruppen, die von al-Nusra ausgeschaltet werden, sind Gruppen, die eine potenzielle Gefahr für die Türkei darstellen. Sie stehen nicht unter der Kontrolle der Türkei oder haben das Potenzial, sich in Zukunft der Kontrolle der Türkei zu entziehen. Die Türkei hat Truppen unter ihrer Kontrolle in diese Gebiete verlegt. Heute verlegt sie sie nach Efrîn und morgen wird sie sie nach Serêkaniyê bringen. Tatsächlich war die erste Schlacht der YPG in Rojava der Kampf gegen al-Nusra in Serêkaniyê im Jahr 2012.

Al-Nusra ist die syrische Version von al-Qaida

Al-Nusra ist die syrische Version von al-Qaida. Auch viele IS-Gruppen gehören ihr an. Die Türkei hat mit allen von ihnen ein Abkommen geschlossen. Im Jahr 2016 schloss die Türkei einen Deal mit den Russen ab, als sie einen Invasionsangriff auf Dscharablus startete. Als Teil dieses Deals brachte die Türkei alle islamistischen Stellvertreter nach Idlib. So konnte Russland Aleppo sichern. Al-Nusra und die Türkei haben ein Abkommen über Nord- und Ostsyrien geschlossen. Dieses sieht vor, dass die von der Autonomieverwaltung kontrollierten Gebiete und die besetzten Gebiete an al-Qaida, das heißt an al-Nusra, übergeben werden und diese dort einziehen.

Der türkische Staat wird diese Kräfte als Druckmittel in seinen Beziehungen zu Damaskus einsetzen. Er wird seine syrische Oppositionspolitik auf diese Kräfte stützen. Die Türkei wird Damaskus mit diesen Kräften erpressen und versuchen, sie gegen die Kurden einzusetzen. Sie wird versuchen, sie mit den Kurden in Konflikt zu bringen. Und sie wird versuchen, die internationale Gemeinschaft und Damaskus davon zu überzeugen, diese islamistischen Stellvertreterkräfte als die syrische Opposition anzuerkennen. Dann wird die Türkei alle islamistischen Stellvertretergruppen, die sie als Quelle der Besorgnis betrachtet, zerschlagen, indem sie sie gegeneinander ausspielt. Kann al-Nusra von Russland, Damaskus und der Welt akzeptiert werden? Nein, das kann sie nicht. Das ist eine andere Frage, aber der Türkei geht es nur darum, sie als Trumpfkarte zu benutzen, um den Völkermord an den Kurdinnen un Kurden durchzuführen und das autonome System [in Nord- und Ostsyrien] zu zerstören. Deshalb ist dies ein sehr gefährlicher Plan. Die Menschen in Nord- und Ostsyrien müssen sehr sensibel und bewusst dagegen vorgehen.

Die Autonome Verwaltung Nord- und Ostsyriens muss eine effektive Politik und Diplomatie betreiben und entsprechend kämpfen. Es müssen sehr ernsthafte militärische Vorbereitungen getroffen werden. Die Gesellschaft von Rojava, egal ob jung oder alt, muss sich auf den revolutionären Volkskrieg vorbereiten. Von nun an wird der faschistische türkische Staat den Krieg gegen Rojava gemeinsam mit al-Nusra führen. Der revolutionäre Volkskrieg in Rojava hätte von Anfang an geführt werden müssen. Bis jetzt wurde er nur teilweise umgesetzt. Wenn der revolutionäre Volkskrieg in Rojava in vollem Umfang geführt wird, wenn alle Menschen sich daran beteiligen und kämpfen, wenn jedes Mitglied der Gesellschaft wie die QSD [Demokratische Kräfte Syriens] kämpft, wird dieser Plan definitiv vereitelt und der türkische Staat wird den größten Schlag in seiner Geschichte erleiden. Dann wird das System, das das faschistische AKP/MHP-Regime in der Türkei errichten will, vollständig zerstört und der Weg für eine demokratische Türkei geebnet werden.