Nach acht Jahren wieder eine demokratische Stadtverwaltung

In Kerboran zog mit Asya Gezer nach acht Jahren Zwangsverwaltung und durch Wahlbetrug installierter AKP-Regierung endlich wieder eine vom Volk gewählte Ko-Bürgermeisterin ins Rathaus ein.

Amtsantritt der DEM-Bürgermeister:innen

Nachdem die AKP vergeblich versucht hatte, den Wahlsieg der DEM-Partei in Kerboran (tr. Dargeçit) anzufechten, zog die Ko-Bürgermeisterin Asya Gezer nun ins Rathaus ein. Die DEM-Partei hatte die Wahlen offiziellen Angaben zufolge mit 49,06 Prozent der Stimmen (6.559 Stimmen) gegenüber 43,59 Prozent (5.828 Stimmen) für die AKP gewonnen. Damit konnte die demokratische Opposition den Landkreis wieder übernehmen. 2016 hatte die Vorgängerpartei HDP die Wahlen gewonnen. Kurz darauf wurde vom türkischen Innenministerium ein Zwangsverwalter eingesetzt. Bei den Kommunalwahlen 2019 setzte das Regime dann auf Beamte und Soldaten, die für vermeintliche Einsätze überall wählen können, und riss so den Sieg an sich. Durch diesen Wahlbetrug konnte sich die AKP mit einem Vorsprung von 634 Stimmen durchsetzen. Auch dieses Mal versuchte die AKP offensichtlich eine ähnliche Strategie, anders lässt sich die um über 1.000 Personen gestiegene Zahl von Wähler:innen bei einer insgesamt etwas zurückgegangenen Wahlbeteiligung kaum erklären. Doch die DEM-Partei konnte sich allem zum Trotz durchsetzen. Die AKP wollte dieses Ergebnis dennoch nicht akzeptieren und beantragte eine Neuauszählung der Stimmen. Während der regionale Wahlausschuss dem Antrag der AKP auf Neuauszählung stattgab, wurde die Entscheidung vom Hohen Wahlausschuss (YSK) kassiert. So ziehen nun die Ko-Bürgermeister:innen Asya Gezer und Aziz Akın in das Rathaus ein.

Es herrschte ein Klima der Angst“

Im ANF-Gespräch erklärte Asya Gezer, dass die politische Ohnmacht nach der massiven Repression nach dem Widerstand um Selbstverwaltung von 2015/2016 durchbrochen worden sei. Gezer berichtete über eine Fluchtwelle aufgrund der Repression aus dem Bezirk: „Dies führte zu einer Zäsur, es herrschte eine Atmosphäre der Angst. Es wurde ein Zwangsverwalter eingesetzt. Unmittelbar nach dem Zwangsverwalter übernahm die AKP 2019 die Stadtverwaltung. Das verursachte noch mehr Angst bei den Menschen und der Druck nahm weiter zu. In Kerboran gibt es vier Straßen, die in die Stadt führen. An allen vier Einfallsstraßen gibt es Kontrollpunkte. Fast jede Straße wird mit Kameras überwacht. Das hat natürlich eine Atmosphäre der Angst geschaffen. Die Menschen berichten, dass sie seit acht Jahren nicht einmal mehr das Rathaus betreten haben."

Wir haben zusammen mit dem Volk gearbeitet“

Die Vorbereitung der DEM-Partei auf die Kommunahlen begann mit einer radikaldemokratischen Vorauswahl der Kandidat:innen. Auch hier sei schon große Unterstützung zu spüren gewesen, erzählte Asya Gezer: „In den ersten zwei Wochen, als wir anfingen, gingen wir zum Beispiel zum Wahlbüro und schauten uns gegenseitig an und fragten uns, ob jemand kommen würde, ob sich die Menschen beteiligen würden. Wir begannen unsere Wahlkampfarbeit zuerst in den Dörfern. Wir besuchten alle Häuser in den Dörfern, eines nach dem anderen, ohne zu unterscheiden, ob die Menschen für die AKP, die CHP oder die MHP stimmten. Wir versuchten, mit allen Familien in Kontakt zu treten, besonders mit den Müttern, denn es sind die Mütter und die Frauen, die einen als erste in einem Haus willkommen heißen. Sie öffnen uns die Tür. Während wir unsere Arbeit in den Dörfern fortsetzten, arbeiteten wir auch in der Stadt. Jeden Abend entstanden drei oder vier Kommissionen. Jede Kommission bestand aus vier, fünf oder manchmal auch sechs oder sieben Freundinnen und Freunden. Wir wurden immer mehr, und mit dieser Arbeit traten die Brüche in der Bevölkerung, die Angst und die Einschüchterung in den Hintergrund. Es entstand ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, das sich sogar in den virtuellen Medien widerspiegelte. Es gab eine große Begeisterung für den Wahlkampf. Ich kann wirklich sagen, dass Kerboran während dieser Wahlaktivitäten zu einem Beispiel für alle wurde.“

Die Menschen schlossen sich gegen die mobilen Wähler zusammen“

Gezer sagte, dass das Regime auf diese Weise besiegt worden sei: „Ich möchte hinzufügen, dass wir wussten, dass etwa 600 Personen von außerhalb zur Stimmabgabe gebracht würden, aber später hieß es, dass es etwa 1.200 ortsfremde Wähler waren. Als die Öffentlichkeit das mitbekam, herrschte am Morgen der Wahl eine Atmosphäre der Resignation. Als wir die Videos von unseren Protesten gegen diese mobilen Wähler veröffentlichten, fand dies großen Anklang. Die Menschen fingen an, sich stärker damit zu beschäftigen und gegen die Repression und das Unrecht aufzubegehren. Am Wahltag ließ keiner unserer jungen Freundinnen und Freunde, keiner unserer Beobachter, keiner unserer Wahlhelferinnen und Wahlhelfer die Wahlurnen auch nur einen Moment aus den Augen. Sie standen bis zum Ende bei den Wahlurnen. Unsere Abgeordneten kamen, unsere Anwältinnen und Anwälte taten dasselbe. Keine Mutter, keine junge Freundin, keine Frau, nicht einmal ein Kind, verließ den Schulhof, die Straßen, das Bezirksgebäude, die Gebäude, bis die Auszählung beendet war. Alle blieben dort, bis die Wahl abgeschlossen war. Wir bekamen unsere Mandate erst nach etwa einer Woche. Sie wurden uns am Sonntag ausgehändigt. Es sollte sogar eine Nachzählung geben. Zusammen mit unseren Abgeordneten legten wir beim Hohen Wahlrat Einspruch ein und riefen die Öffentlichkeit auf, innerhalb einer halben Stunde zu protestieren. Es versammelte sich in kürzester Zeit eine sehr große Menschenmenge, um uns zu unterstützen.“

Die Schaffung von Frauenstellen ist eine Priorität“

Da die Mandate erst spät ausgehändigt wurden und anschließend die Feiertage folgten, kann die Stadtverwaltung erst jetzt mit ihrer Arbeit anfangen. Gezer sagte: „Im Moment sind nur die Ordnungskräfte der Gemeinde im Rathaus. Wenn die Feiertage vorbei sind und wir in die Gemeinde gehen, werden wir die ganze Situation betrachten und unsere Ergebnisse der Öffentlichkeit mitteilen. Zunächst einmal werden wir in jeder Kommission der Gemeinde eine Frau einsetzen. Wir haben darauf geachtet, dass in jeder Kommission Frauen präsent sind. Wir haben zwei Ko-Bürgermeister:innen. Lassen Sie mich Folgendes sagen: Als wir zum ersten Mal ins Rathaus kamen, habe ich die Liste der Angestellten betrachtet. Als man mir die Liste brachte, habe ich nur einen Blick darauf geworfen, und ich sah, dass von 200 Angestellten höchstens zehn Frauen sind, der Rest sind alles Männer. Das war das erste, was mir auffiel. Vielleicht gibt es nicht einmal zehn Frauen im Rathaus. Daran werden wir arbeiten, wir müssen es sogar tun. Wir werden in jedem Bereich Stellen für Frauen schaffen. Wir werden die Arbeit der Frauen in der Stadtverwaltung priorisieren.“

Viele dringliche Probleme”

Gezer berichtete von vielen dringlichen Problemen der Stadtverwaltung. Insbesondere das Problem der Wasserinfrastruktur sei extrem. Das werde als erstes angegangen. Sie fuhr fort: „Die Arbeitslosigkeit ist ein großes Problem. Es gibt viele junge Menschen, die in die Metropolen und ins Ausland abwandern. Das müssen wir verhindern. Außerdem sind die Ladenbesitzer immer Männer, wir denken darüber nach, Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen zu schaffen. Wir haben einen alten Basar, und speziell in diesem alten Basar wollen wir einige Läden für Frauen einrichten, in denen sie ihr eigenes Kunsthandwerk und ihre eigenen landwirtschaftlichen Produkte verkaufen können. Außerdem planen wir, in den kommenden Jahren ein Frauenhaus zu bauen. Zusätzlich zu einem Muttersprachkurs für Kinder wollen wir Kurse in Kunsthandwerk, Kunst, Trommeln und verschiedenen anderen Bereichen für Frauen anbieten. Wir haben auch einen Plan zur Schaffung von sozialen Einrichtungen für junge Menschen. Wir denken an den Aufbau von Kursen, Schwimmbädern, einer Bibliothek und eines Sportkomplexes, wo sie zumindest ihre Zeit verbringen können.“