Sipan Vidanova von der Internationalistischen Kommune Rojava hat sich einer Reportage dem Camp Mexmûr in Südkurdistan gewidmet. Das Camp nahe der gleichnamigen Kleinstadt ist ein selbstverwaltetes Flüchtlingslager von vorwiegend Menschen aus Nordkurdistan, die sich der Repression des türkischen Staates im Zuge der Politik der verbrannten Erde widersetzten und mitten in der Wüste ein freies Leben aufgebaut haben. Nachfolgend geben wir die auf der Website der Kommune veröffentlichte Reportage wieder:
Fährt man auf der Straße von Kerkûk in Richtung Mosul sind die Eindrücke geprägt von viel Staub und stechendem Ölgeruch. Während sich dieses Bild monoton immer weiterzieht, erscheint irgendwann das Geflüchtetencamp Mexmûr in der Ferne. Durch zahlreiche Gärten und Bäume fühlt es sich an, als nähere man sich einer Wüstenoase.
Das Camp liegt zwischen Kerkûk, Mosul und Hewlêr. Der Hauptteil der circa 12.000 Menschen in diesem Camp stammt aus der Region Botan in Nordkurdistan. Im Zuge der Dorfverbrennungen, Plünderungen und der gezielten Vertreibung durch den türkischen Besatzerstaat Anfang der 1990er Jahre sahen sich viele gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Von da an beginnt die Fluchtgeschichte der Bevölkerung Mexmûrs. Eine Geschichte unvorstellbarer Schmerzen und Schwierigkeiten, aber auch eine Geschichte eines Kampfes zur Verteidigung der Würde, eine Geschichte der Unbeugsamkeit. Seit dem Aufbruch aus Botan hat das Lager fünfmal den Ort gewechselt. Von damals bis heute ist das Camp ununterbrochen Angriffen des faschistischen türkischen Staats ausgesetzt: Luftangriffe, Geheimdienstaktionen, Angriffe durch islamistische Milizen. Diese Angriffe werden unterstützt und mitunter sogar ausgeführt von der PDK, deren Praxis der einer Zweigstelle des türkischen Geheimdienstes (MIT) gleicht.
Erste Häuser wurden errichtet
Bis die ersten bleibenden Wohnstrukturen errichtet wurden, waren Zelte der einzige Schutz gegen Wind und Wetter. Hierzu muss man wissen, dass im langen Sommer Mexmûrs Temperaturen über 50°C die Regel sind. In der ersten Zeit gab es nicht einmal Zelte. Die Situation der Bevölkerung Mexmûrs heute, in der zumindest die existenziellsten Überlebensbedürfnisse mehr oder weniger befriedigt werden können, ist das Ergebnis eines langen Kampfes. Als 1994 in einem Zelt die erste Schule gegründet wurde, gab es nicht einmal Stifte für die Schüler und Schülerinnen, aber nichts desto trotz wurde unterrichtet und zwar in der kurdischen Sprache. Eine Freiheit, die es in der Türkei bis heute nicht gibt.
MIT und türkische Luftwaffe terrorisieren das Lager
Drohnen des türkischen Besatzerstaates fliegen täglich über dem Geflüchtetenlager, welches über 200 Kilometer von der Grenze zur Türkei entfernt liegt. Der faschistische türkische Staat scheut keinerlei Kosten und Mühen beim Versuch, vor allem Jugendliche des Camps für seine Zwecke zu benutzen. Es gibt kaum ein Mobiltelefon im Camp, auf dem nicht mindestens einmal ein MIT-Agent angerufen hat. Mal sind es Gewaltandrohungen, vor allem gegen in der Türkei lebende Verwandte, mal sind es materielle Lockversuche. Ein anderes Mittel, an dem sich die Geheimdienste immer wieder versuchen, ist die Verbreitung von Drogen und Prostitution, um allem die Jugend kontrollieren zu können. Wann immer Personen aus dem Camp in andere Städte kamen, sei es um zu arbeiten, zu studieren oder zu gesundheitlichen Behandlungen, wurde vom Feind nichts unversucht gelassen. Eine weitere viel verwendete Taktik ist es, die Auswanderung nach Europa zu bewirken.
PDK und irakische Armee überlassen Camp dem IS
Als 2014 der sogenannte Islamische Staat blitzschnell Mosul überfällt und sich in alle Richtungen auszubreiten droht, lassen die verantwortlichen Streitkräfte der irakischen Armee und der PDK alles stehen und liegen. In diesem Zusammenhang eilt eine Gruppe der Volksverteidigungskräfte (HPG) nach Mexmûr, um das Schlimmste abzuwenden. Daraufhin bleibt ein kleines Kontingent der Guerilla, um das Camp vor möglichen Angriffen zu schützen.
Gesellschaftsorganisation nach dem apoistischen Paradigma
Unter diesen harten Umständen organisiert sich die Gesellschaft des Camps nach dem Paradigma Rêber Apos (Abdullah Öcalan) radikal demokratisch. Von der Kommune bis zum Volksrat, dem Frauen- und dem Jugendrat wurden Organe des Demokratischen Konföderalismus aufgebaut und mit Leben gefüllt. Im Bereich der Wirtschaft wächst die Zahl der Kooperativen, und die ökonomische Transformation schreitet trotz der Hindernisse durch das bestehende Embargo voran.
In den Schulen von Mexmûr werden heute rund 4.000 Schülerinnen und Schüler unterrichtet. Vom Kindergarten bis zum Abitur decken rund 200 Lehrkräfte die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen ab. Doch da Bildung einen enormen Stellenwert hat, gibt es zudem verschiedene Akademien, in der die Bevölkerung sich in Themen wie Jineolojî, Ökologie, Demokratie und vielem mehr bildet.
Nachdem die Gesundheitsversorgung vor allem in den ersten Jahren absolut verheerend war, gibt es heute zwei Krankenhäuser in Mexmûr, die nicht nur die Bevölkerung des Camps, sondern auch zahlreiche Patientinnen und Patienten aus dem weiteren Umland versorgen.
Die Geschichten der Menschen könnten Büchereien füllen
Die Geschichten der Menschen Mexmûrs reichen nicht nur um Bücher, sondern um Büchereien zu füllen. Unzählige Familien haben Mitglieder bei Angriffen auf das Camp verloren. Viele Töchter und Söhne des Camps wurden im bewaffneten Kampf zu Gefallenen, ob in den Bergen oder in Rojava. Doch anstatt sich in all diesen widrigen Umständen zum Opfer zu machen, wahren die Menschen eine außerordentliche Würde und leben mit erhobenem Haupt.
Es ist absolut unmöglich, in ein paar Zeilen die Geschichte und Realität dieser Menschen verständlich zu machen. Zumindest kann ich die tiefe Ehrfurcht erwähnen, die man beim Kennenlernen dieser Menschen und ihres Kampfes empfindet.
Mexmûr kann zeigen: Eine andere Welt ist möglich
Ohne auch nur im Ansatz die Realität der Menschen Mexmûrs dabei zu vergessen, bietet das Camp ein gewisses Potenzial, aufzuzeigen, dass eine andere Welt möglich ist und vor allem wie. Neben der Unfreiheit durch den Status als Geflüchtetencamp findet innerhalb der Gesellschaft ein beeindruckender Befreiungprozess statt. Geleitet von der Freiheitsphilosophie Rêber Apos transformiert sich die Gesellschaft Schritt für Schritt. Die revolutionäre Bedeutung des Camps ist vor allem für dessen Feinde kein Geheimnis und allein dieser Aspekt reicht aus für die Begründung mörderischen Angriffe und das Stummstellen der internationalen Staatengemeinde.
Angriffe von allen Seiten
Auch dieses Jahr bleibt das Camp keineswegs von Angriffen verschont. Im Frühjahr ist es die irakische Armee, die sich in gepanzerten Gefechtsfahrzeugen dem Camp im Morgengrauen nähert. Das Ziel ist, wie im Vorjahr, das Camp einzuzäunen. Dabei handelt die irakische Regierung nicht aus eigenem Interesse, sondern auf Druck des türkischen Staates, der androht, das Fließen des für den Irak lebenswichtigen Flusses Tigris zu stoppen. Sofort stellt sich die Bevölkerung den Soldaten in den Weg. An vorderster Front versperren Mütter die Zufahrtsstraße. Als die Soldaten beharrlich bleiben, antworten die Jugendlichen mit Steinen auf die Angriffe und schlagen die Soldaten in die Flucht. In diesem Moment eröffnen die irakischen Kräfte das Feuer. Ein Jugendlicher wird von einer Kugel in die Brust getroffen und nur durch großes Glück entgeht er dem Tode. 16 Tage dauert die Belagerung durch die irakische Armee an. In dieser Zeit schiebt die gesamte Bevölkerung an den wichtigen Punkten Wache, und wann immer Soldaten sich nähern, werden sie verscheucht. Am Ende gibt die Gegenseite ihre Unternehmung auf.
Türkei weitet Angriffe im Schatten des Israel-Palästina-Konflikts aus
Während der aufbrodelnde Israel-Palästina-Konflikt in den Medien alles überschattet, weitet der türkische Besatzerstaat die Angriffe auf Rojava enorm aus. Sämtliche Versorgungsstrukturen werden zum Ziel erklärt und die Anzahl ziviler Opfer steigt weiter.
Doch auch im Bezug auf Mexmûr nutzt Erdogan die Gunst der Stunde und greift von der Weltöffentlichkeit unbemerkt das Camp an. Am 7. Oktober bombardiert eine türkische Kampfdrohne den Vorhof einer Moschee. Dabei werden eine Frau und zwei Kinder verletzt. Eine Woche darauf folgt ein weiterer Drohnenangriff. Abermals wird eine Frau schwer verletzt.
Am 13. Oktober bombardiert eine türkische Kampfdrohne ein Auto in der Nähe von Hewlêr (Erbil). Die Menschen stammen alle aus dem Camp. Drei Mitfahrerinnen werden verletzt. Der Fahrer des Fahrzeuges ist der frischverlobte Dilovan Işlek. Die Rakete schlägt auf der Seite des Fahrers ein, der 27-Jährige wird getötet.
Obwohl es sich bei Mexmûr um ein Geflüchtetencamp handelt und somit die UN zuständig sind, zeigt diese keinerlei Haltung gegen die Angriffe. Eine viel verwendete Ausrede ist die Anwesenheit der Guerilla in der Nähe des Camps. Es wird behauptet, es handele sich um ein militärisches Camp. Um dieser Propaganda den Boden zu nehmen und weil die ursprüngliche Aufgabe der Guerilla in Mexmûr erfüllt wurde, wurden alle Kämpfer:innen im September abgezogen. In Folge der Bekanntmachung dessen kommt es zu einem Gefecht zwischen der irakischen Armee und der PDK auf dem Qereçox, an dessen Ausläufern das Camp liegt. Unter den Toten der PDK ist auch ein Mitglied des türkischen Geheimdienstes, was abermals eine Offensichtlichkeit bestätigt.
Solidarität ist nur von der weltweiten demokratischen Gesellschaft zu erwarten
Sicherlich ist es keine Neuigkeit, dass die UN, EU und andere Staaten keine Hilfe sind für ein Volk, das eine Vorstellung von Freiheit hat und nicht bereit ist, sich zu verkaufen. Märchen vom Humanismus der EU und UN sind längst niemandem mehr glaubhaft zu machen und auch die Bevölkerung Mexmûrs weiß dies nur zu gut. Solidarität ist einzig und allein von der weltweiten demokratischen Gesellschaft zu erwarten. Dass Geschichten wie die von Dilovan auch außerhalb Kurdistans Gehör finden und dass die Angriffe des faschistischen türkischen Staates nicht unbemerkt bleiben, liegt allein in der Kraft der Freiheitssuchenden in aller Welt, allen voran der internationalistischen Jugend.
Titelbild: Sitzblockade in Mexmûr im Mai 2023 gegen den Versuch der irakischen Armee, das Camp mit Stacheldraht einzuzäunen