Karayılan: Wir vertrauen auf die Jugend von Mexmûr

„Die kurdische Befreiungsbewegung hat ihre Mission in Mexmûr erfüllt und vertraut die Verteidigung der Jugend an“, erklärt Murat Karayılan zum Rückzug der Guerilla aus dem Camp. Kritik richtet der HPG-Oberkommandierende an die Vereinten Nationen.

Nach der Bekanntgabe des Rückzugs aller Guerillaeinheiten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Flüchtlingslager Mexmûr hat das zentrale Hauptquartier der Volksverteidigungskräfte (NPG) eine Botschaft von Murat Karayılan zu dem Vorgang veröffentlicht. Der Oberkommandierende der PKK-Guerilla betont in einem Videostatement, dass die Entscheidung für den Rückzug aus dem Camp nach internen Debatten getroffen worden sei. „Niemand hat uns aufgefordert, Mexmûr zu verlassen. Der Entschluss, alle militärischen Kräfte aus dem Lager abzuziehen, ist das Ergebnis einer Diskussion der Leitung unserer Bewegung“, erklärte Karayılan. „Die kurdische Befreiungsbewegung hat ihre Mission in Mexmûr erfüllt und vertraut die Verteidigung der Jugend an. Wir haben keinen Zweifel daran, dass die Bewohnerinnen und Bewohner des Lagers sich im Ernstfall effektiv verteidigen können.“

PKK seit 2014 in Mexmûr

Das NPG hatte am Donnerstag mitgeteilt, dass der schrittweise Rückzug der Guerillaarmeen YJA Star (Verbände freier Frauen) und HPG (Volksverteidigungskräfte) aus Mexmûr abgeschlossen ist und die letzten verbliebenen Einheiten das Lager verlassen haben. Entsandt worden war die Guerilla in das Camp nahe der gleichnamigen Stadt südwestlich von Hewlêr (Erbil) im Sommer 2014, als die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) weite Teile des Iraks und halb Syrien überrannt und dort ein sogenanntes Kalifat ausgerufen hatte. Die PKK verteidigte in jenem Jahr neben Mexmûr auch das ezidische Siedlungsgebiet Şengal sowie Kerkûk und Dihok gegen den IS. Dadurch konnte unter anderem der Vormarsch der Dschihadisten auf Hewlêr, der Hauptstadt der Kurdistan-Region Irak, gestoppt werden.

UN nur nominell präsent

Offiziell steht Mexmûr unter dem Schutz und der Kontrolle des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR), praktisch ist die Organisation aber nur noch nominell präsent. Sie verließ das Lager bei den IS-Angriffen 2014 und kehrte danach nicht mehr zurück. Karayılan kritisiert in seiner Botschaft, dass die Vereinten Nationen (UN) ihre Abwesenheit damit begründeten, Camp Mexmûr sei ein „Militärlager“. Diese Behauptung zieht auch der türkische Staat seit Jahren immer wieder heran, um seine Luftangriffe auf das Lager, das mit seinen rund zwölftausend Bewohnenden die größte kurdische Flüchtlingsgemeinschaft weltweit beherbergt, zu bombardieren. Erst vor einer Woche war eine 50-jährige Bewohnerin bei einem türkischen Drohnenangriff in Mexmûr verletzt worden. Am Dienstag kam Dilovan Işlek aus Camp Mexmûr infolge eines gezielten Luftschlags gegen sein Fahrzeug auf dem Rückweg von Koye in das Lager ums Leben.

Die ehemals von der PKK-Guerilla gehaltenen Positionen in Mexmûr befinden sich nicht im Lager selbst, sondern am Berg Qereçox, der unmittelbar an Camp Mexmûr grenzt. Auf dem Osthang des Massivs befindet sich eine Basis des IS, die von Islamisten hochgezogen wurde, denen im Zuge der finalen Offensive gegen die letzte IS-Bastion Baghuz im syrisch-irakischen Grenzgebiet die Flucht gelang. | Die Videobotschaft von Murat Karayılan an Camp Mexmûr wurde am 11. September 2023, inmitten der abschließenden Rückzugsvorbereitungen, aufgezeichnet.


Welche Bedingungen herrschten 2014 in Südkurdistan und im Irak?

„Man muss sich die Frage stellen, unter welchen Umständen und zu welchem Zeitpunkt Mexmûr militarisiert wurde? Was herrschten damals für Bedingungen? Gäbe es heute einen Ort wie Mexmûr oder Hewlêr überhaupt noch, wenn die kurdische Freiheitsguerilla nicht zusammen mit der Bevölkerung von Mexmûr Widerstand gegen den IS geleistet hätte? Riesige Landstriche haben die Extremisten damals in Windeseile zu Fall gebracht. Das waren die Bedingungen, denen sich die Guerilla gestellt hat. Ich wage es zu bezweifeln, dass Organisationen wie die UN sich im Irak hätten halten können, wenn unsererseits in Regionen wie Mexmûr nicht eingegriffen worden wäre. Wir haben die Verteidigung übernommen und sind für Şengal, Mexmûr, Kerkûk und Dihok aktiv geworden. Nur durch diesen von Genossen wie Şehîd Tekoşer und Freundinnen wie Deniz Fırat angeführten Widerstand konnte das Tor nach Hewlêr gehalten werden. Doch nun sind wir an dem Punkt angelangt, an dem wir glauben, dass unsere Bewegung ihre Mission in Mexmûr erfüllt hat und die Verteidigung der Region der dortigen Jugend anvertraut.”

Ideologische Differenzen keine Rechtfertigung für Gewalt

Die Menschen in Mexmûr blicken auf eine fast 30-jährige Fluchtgeschichte zurück. Ihr Exodus durch Südkurdistan nach ihrer Vertreibung aus der Botan-Region durch den türkischen Staat dauerte vier Jahre, den Flüchtlingsstatus bei den UN erkämpften sie sich mit einem Hungerstreik. In der Wüste etablierten sie Basisdemokratie, Selbstverwaltung und -organisation, die sie auch unter den schwierigsten und widrigsten Bedingungen verteidigen. Laut Karayılan seien diese „unerschütterliche Haltung“ und die tiefe Verbundenheit der Lagerbevölkerung zu den Grundsätzen der kurdischen Befreiungsbewegung das Motiv hinter allen Angriffen auf Mexmûr und den Versuchen, das Camp aufzulösen. Ideologische Differenzen könnten aber keine Rechtfertigung für staatliche Gewalt, Kriegsverbrechen und ignorierte Verantwortlichkeiten sein. „Mexmûr ist ein Flüchtlingslager und seine Bewohnerschaft hat einen politischen Status inne. Das sind Fakten, die sich nicht beiseiteschieben lassen“, betonte Karayılan. Es sei notwendig, Mexmûr überall zu verteidigen.

Der Rückzug der PKK-Guerilla aus Mexmûr hat ein Sicherheitsvakuum hinterlassen, das von der 14. Division der irakischen Armee gefüllt wurde | Foto via RojNews


Karayılan würdigt basisdemokratisches System von Mexmûr

An die Bevölkerung von Mexmûr richtete Karayılan ebenfalls einige Worte. Der HPG-Oberkommandant würdigte die Menschen dafür, dass sie sich der Verteidigung der Gedanken und der Philosophie von PKK-Begründer Abdullah Öcalan verschrieben hätten. „Ihr webt das Leben an dem Paradigma der radikalen Demokratie. Diese Idee von Rêber Apo [Abdullah Öcalan] ist das fortschrittlichste Verständnis von Demokratie der Gegenwart. Durch euch als Gesellschaft und politische Flüchtlingsgemeinschaft wird diese Tatsache sichtbar. Ihr habt ein System aufgebaut, dem unsere Anerkennung und unser Respekt gebührt, das jedoch noch mehr vom Paradigma und der Philosophie Rêber Apos erkennbar werden lassen sollte. Noch mehr Demokratie und Wahlen für alle Entscheidungen und Maßnahmen. Mexmûr sollte ein Garten in der Wüste sein, in dem Rosen und andere Blumen zum Blühen gebracht werden. Ihr solltet allen zeigen, was Demokratie in dieser Region bedeutet und wie ein autonomes demokratisches System aufgebaut werden kann. Das Camp kann als Beispiel herangezogen werden – in Südkurdistan und im Irak. Verleiht eurem System noch mehr Geist und praktiziert es nicht formal, sondern essentiell. Als kurdische Bewegung sind wir fest davon überzeugt, dass die Gesellschaft von Mexmûr, die sich an den Grundsätzen von Rêber Apo orientiert, sich für diesen Zweck engagiert und auf dieser Basis ein neues Leben webt, in der Lage sein wird, alles zu erreichen, indem sie einen guten Zugang zu den Quellen Ihrer eigenen Kraft findet. Mit dieser Hoffnung und Überzeugung grüßen wir die Bewohnerinnen und Bewohner von Mexmûr mit Liebe und Respekt und wünschen viel Erfolg.“