Mexmûr: Wenn ein Flüchtlingscamp synonym für den Widerstand steht

Die Menschen in Mexmûr blicken auf eine 26-jährige Fluchtgeschichte zurück. Ihr Exodus durch Südkurdistan dauerte vier Jahre, den Flüchtlingsstatus bei den UN erkämpften sie sich mit einem Hungerstreik. In der Wüste etablierten sie Basisdemokratie.

Das nach Rustem Cûdî benannte südkurdische Flüchtlingslager Mexmûr unterliegt seit mittlerweile 310 Tagen einem Embargo. Die Verantwortlichen der Regierungspartei der Autonomieregion Kurdistans PDK (Demokratische Partei Kurdistans) nahmen die Tötung des türkischen Geheimdienstverantwortlichen Osman Köse am 17. Juli in Hewlêr (Erbil) zum Vorwand, um gegen das Lager eine umfassende Blockade zu verhängen. Das Alltagsleben der etwas mehr als 12.000 Einwohner*innen wird dadurch schwer beeinträchtigt. In einem mehrteiligen Dossier beleuchten wir die Hintergründe des Embargos sowie die aktuelle Lage im Camp, die 25-jährige Fluchtgeschichte der Bewohner*innen von Mexmûr und die Etablierung eines basisdemokratischen und selbstverwalteten Rätesystems inmitten einer unwirtlichen Wüste.

Die Bevölkerung von Mexmûr besteht praktisch zu hundert Prozent aus Menschen aus Nordkurdistan. In der Regel stammen sie aus den ländlichen Gebieten der Provinzen Colemêrg (türk. Hakkari), Şirnex (Şırnak), Mêrdîn (Mardin) und Sêrt (Siirt). Alle diese Regionen liegen in der historischen Landschaft Botan, die vom 15. bis zum 19. Jahrhundert ein halbautonomes kurdisches Fürstentum unter osmanischer Oberhoheit war. 1847 zerschlugen die Osmanen einen Aufstand gegen die geplante Zentralisation von Botan – das Fürstentum wurde aufgelöst und in die osmanischen Provinzen eingegliedert.

In Botan liegen zugleich auch die Gebiete, in denen 137 Jahre später der bewaffnete Befreiungskampf der PKK begann. In Dih (Eruh) bei Sêrt fiel an einem Augusttag im Jahr 1984 „der erste Schuss“ der von Abdullah Öcalan und seinen Freunden gegründeten Arbeiterpartei Kurdistans. Zeitgleich beschoss eine Guerillaeinheit in Şemzînan (Şemdinli) in der Provinz Colemêrg einen Militärstützpunkt mit Maschinengewehren und Raketen. Beide Aktionen führten zu Toten in den Reihen der Armee. Damit rückte Botan erneut ins Visier der türkischen Aufstandsbekämpfung. Die staatliche Repression gegen die kurdische Bevölkerung hatte bereits nach dem Militärputsch von 1980 massiv zugenommen, erreichte ihren Höhepunkt jedoch in den 1990er Jahren, als die türkische Armee großangelegte Operationen durchführte. In Botan ging der Staat besonders grausam vor, ein Großteil der rund 4000 kurdischen Dörfer, die damals in Nordkurdistan vom Militär niedergebrannt und geräumt wurden, befand sich dort.

Botan wurde wie ein Meer ausgetrocknet

Ältere Menschen in Mexmûr beschreiben diese Zeit als eine Politik der Austrocknung eines Meeres, um den Fisch zu fangen. Die Bewohner*innen von Botan lebten vor allem von Viehzucht und Landwirtschaft. Beide Existenzgrundlagen wurden ihnen jedoch genommen und der Lebensraum der Region unbewohnbar gemacht – Weideflächen wurden zu verbotenen Zonen erklärt und über die Dörfer ein wirtschaftliches Embargo verhängt, Lebensmittel waren nur noch gegen Gutscheine zu erwerben. Im Klartext bedeutete dies eine strikte Rationierung: die Erlaubnis für ein Kilogramm Zucker oder Mehl musste bei den wie Pilze aus dem Boden schießenden Militärposten eingeholt werden, entsprechend durfte man auch nur die genehmigte Menge einkaufen. Das Leben in Botan wurde damit faktisch zum Stillstand gebracht. Hunderte, wenn nicht sogar tausende Menschen wurden im Laufe der Jahre festgenommen und landeten im Gefängnis, unzählige Menschen wurden auf offener Straße Opfer sogenannte „Morde unbekannter Täter“.

Viele Menschen aus Botan suchten daraufhin Schutz in den türkischen Metropolen oder in Europa. Ein kleiner Teil allerdings flüchtete nach Südkurdistan. Diese ersten Fluchtbewegungen geschahen in den Jahren zwischen 1991 bis 1993. Im Jahr 1994 erreichte die Unterdrückung in Botan ihren Höhepunkt. Zu der Zeit waren die Kämpfe zwischen der PKK und dem türkischen Staat am heftigsten. Der türkische Staat versuchte derweil, die Kontrolle über die an Botan grenzende südkurdische Behdînan-Region zu erlangen.

In dieser Phase entsandte die Regierung in Ankara eine Delegation nach Botan, die den Auftrag hatte, den Dorfbewohner*innen das sogenannte Dorfschützer-System aufzuzwingen. Die Menschen sollten als paramilitärische Einheiten gegen die Guerilla agieren und in Kurdistan für die Interessen des Staates eintreten. Wer die Kollaboration ablehnte, musste seine Heimat verlassen – oder sterben. Das war am 26. März 1994 insgesamt 38 Zivilist*innen aus Şirnex geschehen. An diesem Tag bombardierte die türkische Luftwaffe an den Gebirgsausläufern des Cûdî die Dörfer Gewer (Kuşkonar) und Bezokê (Koçağılı). Die meisten Todesopfer waren Frauen, Kinder und ältere Menschen. Auch sieben Babys starben. Der Angriff ereignete sich früh morgens, die meisten Männer waren bei der Feldarbeit außerhalb der Dörfer.

Mexmûr: Resultat der Taktik der verbrannten Erde

Nach dem Massaker in Şirnex begann der große Exodus aus Botan Richtung Südkurdistan. Ein Großteil der rund 7.000 Menschen floh nach Zaxo im Gouvernement Dihok, andere wiederum ließen sich in Heftanin in den Dörfern Şeraniş und Biherê nieder. Im selben Jahr sprach ihnen die UNO den Flüchtlingsstatus zu und brachte die Menschen im Lager Etrûş unter. Dieses wurde aber auf Druck der Türkei und auf Grundlage einer Vereinbarung zwischen der PDK und der YNK (Patriotische Union Kurdistans) drei Jahre später aufgelöst. In der ersten Zeit galt in Camp Etrûş ein von der PDK verhängtes Embargo, Peschmerga und die türkische Armee griffen immer wieder militärisch an. Im Februar 1997 errichteten einige tausend Menschen in Ninawa in der Nähe des Erdölgebiets um Mossul erneut ein Flüchtlingslager – Nehdar –, dessen Grundversorgung das UNHCR übernahm. Genau ein Jahr später musste auch dieses Lager aufgegeben werden, da die Menschen in Nehdar ebenfalls dem Druck und den Attacken der türkischen Regierung ausgesetzt waren. Die Fluchtmöglichkeit sowohl in die Türkei wie auch in den Irak wurde den hungernden und schutzlos der Kälte ausgesetzten Menschen von den Militärs beider Länder versperrt. Dennoch ließen sich die Flüchtlinge aus Botan nicht einschüchtern und kämpften mit großer Willenskraft ums Überleben. Nach einer bereits vier Jahre andauernden Odyssee ließen sie sich im Februar 1998 unter schwierigen Bedingungen im Mexmûr-Tal auf dem 36. Breitengrad nieder.

Embargo in Etrûş

Wir haben mit Kendal Kara über diese Zeit gesprochen. Der Lehrer stammt aus einem Dorf am Cûdî und hat die dunkle Phase im Nordkurdistan der 90er Jahre miterlebt. Kara erinnert sich mit aller Klarheit daran, dass die Räumung der Dörfer in den Regionen Cûdî und Gabar im Frühjahr 1994 keine sechs Wochen dauerte: „Am 12. April 1994 intensivierten sich die Angriffe, die mittlerweile ausnahmslos alle Dörfer in Botan betrafen. Ende Mai war keine einzige Ortschaft mehr bewohnt.”

Die Zeit in Zaxo war kurz, der Aufenthalt in Etrûş umso schwieriger. Die ersten drei Monate wurden die Menschen von der Außenwelt abgeschottet, weder konnten Nahrung und Hilfsmittel geliefert werden, noch durfte jemand das Camp verlassen. Die Menschen versuchten mit äußerst beschränkten Möglichkeiten zu überleben. „Wir hatten uns bereits etwa fünf bis sechs Monate in Etrûş aufgehalten, aber wir hatten noch immer keinen Status. Deshalb entschied sich eine knapp 60-köpfige Gruppe, unsere Geflüchtetenrechte mit einem Hungerstreik zu erkämpfen. Nach 29 Tagen des Protests vor dem Sitz des UNHCR zeigte die Aktion Wirkung: die Vereinten Nationen sprachen uns den Flüchtlingsstatus zu. Die Türkei war natürlich nicht begeistert. Es folgten Bombardements auf das direkte Umland des Camps. Wir glauben, dass die Koordinaten von UN-Vertretern weitergegeben wurden. Im November 1994 wurde Etrûş de-facto in zwei geteilt.“

Die Kollaboration der PDK mit dem türkischen Staat traf die Geflüchteten aus Botan mit voller Wucht. Während im türkisch-irakischen Grenzgebiet massive Operationen gegen die Guerilla der PKK hochgezogen wurden, schotteten Peschmergas der Regierungspartei das Camp Etrûş von der Außenwelt ab. „Zuerst raubten sie unser Vieh, später wurden sogar mehrere Hirten hingerichtet. Bei einer Demonstration gegen das Embargo wurde eine Bewohnerin erschossen, sechs weitere Frauen wurden verletzt. Insgesamt dauerte die Blockade gut drei Monate“, erinnert sich Mamoste Kara.

Nach diesen Angriffen entschlossen sich die Menschen im zweigeteilten Etrûş erneut, einen Hungerstreik durchzuführen. Am 15. Tag der Aktionen hatten sie ein Gespräch mit UN-Vertretern erreicht. „Wir konnten erwirken, dass das UNHCR die Grundversorgung des Camps übernimmt. Außerdem setzten wir durch, dass Etrûş wieder vereint wird.“

2. Teil: Das Embargo über Camp Mexmûr ist Teil des Kriegskonzepts der Türkei