Emine Şenyaşar beendet Mahnwache

Am 846. Tag ihrer Mahnwache hat Emine Şenyaşar ihren Protest vor dem Justizpalast Urfa beendet. Sollte beim nächsten Prozesstag nicht „ein Hauch von Gerechtigkeit“ für ihre zu Tode gelynchten Angehörigen erreicht werden, wolle sie nach Ankara ziehen.

Am 846. Tag ihrer Mahnwache vor dem Justizpalast in Riha (tr. Urfa) hat Emine Şenyaşar ihren Dauerprotest gegen die Ermordung ihres Ehemannes und zwei ihrer Söhne vorerst beendet – und gleichzeitig angekündigt, nach Ankara zu ziehen, sollte sich beim Prozess um die Lynchmorde nicht „ein Hauch von Gerechtigkeit“ abzeichnen. Am Dienstag steht vor einem Strafgericht in der Provinz Meletî (Malatya) die dritte Hauptverhandlung im Verfahren um die Geschehnisse im Laden an.

Emine Şenyaşar ist die Witwe von Hacı Esvet Şenyaşar und Mutter der gemeinsamen Söhne Celal und Adil. Die drei Männer wurden vor über fünf Jahren am Rande einer Wahlkampftour in der Kreisstadt Pirsûs (Suruç) von bewaffneten Bodyguards und Verwandten des ehemaligen AKP-Abgeordneten Ibrahim Halil Yıldız brutal getötet. Drei weitere Söhne der Kurdin waren bei dem Angriff schwer verletzt worden.

„Am 18. Juli wird meine Mutter entweder nach Hause gehen und anders als in den vergangenen fünf Jahren ihre Zeit in den eigenen vier Wänden verbringen. Oder aber sie wird ihren Widerstand in das Herz dieses Staates hineintragen“, sagte Emine Şenyaşars Sohn Ferit, der bei den Wahlen im Mai als Abgeordneter der Grünen Linkspartei (YSP) in die türkische Nationalversammlung gezogen ist, am Sonntag vor Presseleuten in Riha. Der Politiker dankte allen Menschen, die den Protest vor dem Justizpalast in den vergangenen Jahren unterstützt haben, und verurteilte, dass die türkische Justiz keine Anstrengungen unternehmen würde, der Gerechtigkeit Genüge zu tun. „Das ist eine Schande für das Rechtssystem“, so Şenyaşar. „Nach mehr als fünf Jahren in Einzelhaft wollen wir zudem, dass mein Bruder Fadıl freigelassen wird.“

Ein Massaker mit Ansage

Was war in Riha passiert? Genau zehn Tage vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 24. Juni 2018 suchte Ibrahim Halil Yıldız in Begleitung von Leibwächtern und Angehörigen den Familienbetrieb der Familie Şenyaşar im Zentrum von Pirsûs auf. Es war der zweite „Besuch“ binnen weniger Tage. Man wollte die Großfamilie noch massiver unter Druck setzen als zuvor, und sie zur Stimmabgabe für die AKP von Langzeitherrscher Recep Tayyip Erdoğan bedrängen. Nach einer kurzen Diskussion kam es zu einer verbalen Auseinandersetzung, die in eine Schießerei mündete. Die rechtliche Auseinandersetzung mit dem Massaker zieht sich seither hin.

Emine Şenyaşar wird am Sonntag auf dem Weg zu ihrer letzten Gerechtigkeitswache in Riha von Unterstützenden begleitet | Foto: MA


Überwachungskameras fingen ein, dass die bewaffneten Begleiter von Yıldız mit Messern, Stöcken, Pistolen und Langfeuerwaffen zum Angriff auf die Ladenbetreiber übergingen. Celal und Adil Şenyaşar sowie Mehmet Şah Yıldız, einer der Angreifer, brachen im Laden mit Stich- und Schussverletzungen blutüberströmt zusammen. Auch Ferit und Fadıl Şenyaşar wurden verletzt. Celal und Adil wurden zusammen mit Ferit Şenyaşar in die staatliche Klinik von Suruç gebracht. Fadıl Şenyaşar landete zuerst im Balıklıgöl-Krankenhaus in der Provinzhauptstadt Riha, bevor er in eine Klinik in Amed (Diyarbakır) gefahren wurde.

Mehmet Şenyaşar, ein anderer Geschwisterteil, der sich zum Zeitpunkt des Angriffs nicht im Laden aufhält, gab später an, seine Brüder am Tatort verblutend vorgefunden und sich unmittelbar nach Abfahrt der Ambulanz mit Celal und Adil in die Klinik von Suruç begeben zu haben. Die Eltern Emine und Hacı Esvet Şenyaşar, die inzwischen über den Angriff informiert worden waren, eilten zu Fuß in dasselbe Krankenhaus. Doch die Gefolgsleute von Ibrahim Halil Yıldız trafen vor den Şenyaşars in der Klinik ein, Mehmet Şah Yıldız wurde kurz darauf für tot erklärt. Der AKP-Politiker ließ den Notfallbereich stürmen, als Celal und Adil Şenyaşar dort eingeliefert wurden. Der Mob zerstörte zunächst die Überwachungskameras, bevor die beiden Brüder vor den Augen des behandelnden Gesundheitspersonals auf bestialische Weise ermordet wurden.

Siebzehn Kugeln auf Adil

Die Gerichtsmedizin stellte bei der Autopsie von Celal Einschüsse von Kugeln aus mindestens sechs Schusswaffen verschiedenen Kalibers fest. Bei der Untersuchung seines Bruders Adil wurden an 14 Stellen des Körpers Schnitt- und Stichverletzungen wie auch Schlagverletzungen mit harten Gegenständen festgestellt. Im Bericht heißt es, dass Adil „extremer Gewalt“ ausgesetzt gewesen sei. In seinem Körper wurden siebzehn Kugeln verschiedenen Kalibers gefunden. Von diesen Projektilen waren fünf tödlich. Nur zwei der Geschosse hatte man nicht aus dem Nahabstand, sondern noch im Laden abgefeuert.

Mehmet Şenyaşar wurde damals in der Eingangshalle der Klinik von dem AKP-Mob abgefangen und in einen Raum verschleppt. Dort schlugen und traten die Angreifer auf ihn bis zur Bewusstlosigkeit ein. Als er auf einer Trage wieder zu sich kam, wurde er Zeuge davon, dass sein Bruder Ferit, der direkt neben ihm lag, mit einem Messer verletzt wurde. Personal und Polizei brachten die beiden Schwerverletzten daraufhin in einen Schutzraum, doch auch hier schlug der Mob wieder zu. „Ein Verwandter von Yıldız trat die Tür ein und gab einen Schuss auf mich ab. Andere wandten sich Ferit zu und schlugen mit Fäusten auf ihn ein, obwohl er bereits bewusstlos war. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich tot zu stellen. Die Polizeibeamten waren aus Angst wie versteinert, weil sie sich vor dem Abgeordneten und seinen Leuten fürchteten“, äußerte Mehmet Şenyaşar später in einem Interview.

„Gerechtigkeit für die Familie Şenyaşar - Gerechtigkeit für alle“ | Foto: MA


Ungefähr zeitgleich zu den Vorgängen im Schutzraum wurde der Vater Hacı Esvet Şenyaşar in der Eingangshalle des Krankenhauses von Suruç durch Schläge mit einer Sauerstoffflasche auf den Kopf von dem AKP-Mob ins Koma geprügelt. Seine Ehefrau Emine sah dies mit eigenen Augen. Die Klinikleitung hatte zwischenzeitlich zwar die Verlegung von Mehmet und Ferit Şenyaşar veranlasst, doch der Terror ging weiter. Der von einer Polizeistreife eskortierte Krankenwagen wurde noch im klinikeigenen Garten umzingelt. Ein paar AKP-Leute zerschossen die Reifen, während andere die Windschutzscheibe demolierten. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde der Provinzgouverneur von Urfa aktiv: wenn auch mit platten Reifen, erreichte die Ambulanz das Polizeipräsidium. Die Verletzten wurden in einen anderen Krankenwagen verlegt und in eine Klinik in der benachbarten Provinz Dîlok (Antep) gefahren. Auch der Vater Hacı Esvet Şenyaşar wurde am Abend dorthin verlegt, verstarb aber einen Tag später. Zur gleichen Zeit wurde in Pirsûs die Beerdigung seiner Söhne Celal und Adil von der türkischen Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern angegriffen.

Überlebender zu fast vier Jahrzehnten Knast verurteilt

Inzwischen sind mehr als fünf Jahre seit dem Massaker vergangenen. Doch weder Ibrahim Halil Yıldız noch der Großteil seiner Begleiter mussten sich für ihre Taten vor Gericht verantworten. Besonders perfide am Umgang der türkischen Justiz mit den Lynchmorden: Während bislang nur einer von Dutzenden identifizierten Angreifern verurteilt wurde – allerdings zu einer symbolischen Strafe von 18 Jahren: das Gericht wertete es als strafmildernd, dass die Tat „spontan aus einem eskalierenden Streit heraus“ geschehen sei – erhielt mit Fadıl Şenyaşar ein Überlebender wegen der Tötung des Angreifers Mehmet Şah Yıldız eine knapp 38-jährige Haftstrafe. Und dass, obwohl relativ schnell nachgewiesen worden war, dass der Mann von seinen eigenen Leuten getötet wurde. Erschwerend kommt hinzu, dass das Verfahren in zwei Teile abgetrennt wurde. Die Vorfälle im Laden werden in Meletî verhandelt, die Geschehnisse in den Krankenhäusern in Riha.