Die Generalstaatsanwaltschaft Urfa (ku. Riha) hat Anklage gegen Emine Şenyaşar erhoben. Hintergrund ist eine Anzeige wegen vermeintlicher Beleidigung eines Amtsträgers, gestellt durch den AKP-Abgeordneten Ibrahim Halil Yıldız. Der Mann führte im Juni vor drei Jahren den Lynchmob an, der den Ehemann von Emine Şenyaşar und zwei ihrer Söhne in der Kreisstadt Pirsûs (tr. Suruç) tötete. Weil die türkischen Justizbehörden kein Interesse daran zeigen, die Morde restlos aufzuklären, und Ibrahim Halil Yıldız sowie dessen Mafiabande nach wie vor ein Leben in Freiheit genießen, führt Emine Şenyaşar seit 185 Tagen zusammen mit ihrem Sohn Ferit eine Mahnwache für Gerechtigkeit durch. Aufgrund von diesem Anliegen sieht sich Yıldız von der 70-Jährigen beleidigt.
Bis zu vier Jahre Haft gefordert
Grundlage der Anklage ist Artikel 125/3 des türkischen Strafgesetzbuches, nach dem die Würde, die Ehre oder das Ansehen eines Amtsträgers nicht durch Beleidigung angegriffen werden darf. Weil sich die angebliche Beleidigung gegen ein Parlamentsmitglied richtete und öffentlich begangen worden sei, drohen Emine Şenyaşar bei einer Verurteilung bis zu vier Jahre Gefängnis. Bei der vermeintlichen Beleidigung handelt es sich vielmehr um eine Wehklage, die die Kurdin bei ihrer Mahnwache am 2. Juni vor dem Justizpalast in Riha äußerte. Der seelische Schmerz, den die Seniorin aufgrund des Verlusts ihres Mannes und der beiden Söhne laut beweinte, wurde von der türkischen Justiz auf Betreiben von Yıldız in eine Beleidigung umgewidmet. Der Prozess gegen die Şenyaşar soll am 12. November beginnen, verhandelt wird am Landgericht Urfa.
23 Kugeln auf Adil und Cemal Şenyaşar
Was war in Pirsûs passiert? Zehn Tage vor der Parlamentswahl am 24. Juni 2018 suchte der AKP-Abgeordnete Ibrahim Halil Yıldız in Begleitung von Verwandten und Leibwächtern den Familienbetrieb der Familie Şenyaşar auf. Nach einer verbalen Auseinandersetzung wurden Mehmet, Celal und Adil Şenyaşar mit Schussverletzungen in ein Krankenhaus gebracht, wo zwei von ihnen letztlich ermordet wurden. Die Gerichtsmedizin stellte bei der Autopsie von Celal Şenyaşar Einschüsse von Kugeln aus mindestens sechs Schusswaffen verschiedenen Kalibers fest. Bei Adil Şenyaşar wurden an 14 Stellen des Körpers Schnitt- und Stichverletzungen wie auch Schlagverletzungen mit harten Gegenständen festgestellt. Im Bericht heißt es, dass Adil „extremer Gewalt“ ausgesetzt gewesen sei. In seinem Körper wurden siebzehn Kugeln verschiedenen Kalibers gefunden. Von diesen Projektilen waren fünf tödlich. Nur zwei der Geschosse wurden nicht aus dem Nahabstand abgefeuert. Der Vater Hacı Esvet Şenyaşar, der zu Fuß in das Krankenhaus herbeigeeilt war, wurde dort durch Schläge mit einer Sauerstoffflasche auf den Kopf schwer verletzt. Er starb einen Tag später, während die Beerdigung seiner zwei Söhne von der Polizei mit Tränengas angegriffen wurde.
Verfahren um Krankenhaus-Morde noch immer nicht eröffnet
Besonders perfide an dem Vorgehen der türkischen Justiz: Während bislang nur einer der zwei Dutzend Angreifer wegen dem Dreifachmord an den Şenyaşars verurteilt wurde – allerdings zu einer symbolischen Strafe von 18 Jahren, soll ein anderer Sohn von Emine Şenyaşar wegen der Tötung eines Angreifers fast 38 Jahre lang im Gefängnis sitzen, obwohl er nachweislich nicht auf den Mann geschossen hat. Denn das Verfahren um den Tod von drei Mitgliedern der Familie Şenyaşar und den eines der Angreifer wurde in zwei Teile abgetrennt. Die Vorfälle im Laden wurden in Meletî (Malatya) verhandelt, die Geschehnisse in den Krankenhäusern sollen in Riha vor Gericht gebracht werden. Doch eine über die Ermittlungsakte bereits vier Tage nach den Morden verfügte Geheimhaltungsverfügung ist noch immer nicht aufgehoben worden, entsprechend wurde auch keine Anklage erhoben. Bisher konnte die Identität von 23 Personen, die sich an den Lynchmorden beteiligten, festgestellt werden. Dennoch wurde bisher keiner von ihnen festgenommen.