Lynchmorde von Pirsûs: Vier Verhaftungen in Riha

Im Zusammenhang mit den Lynchmorden an drei Mitgliedern der in Pirsûs ansässigen Familie Şenyaşar im Jahr 2018 sind vier Tatverdächtige verhaftet worden. Ihnen wird Mord und Beweisvernichtung vorgeworfen.

In Riha (tr. Urfa) sind vier Personen aus dem Umfeld des AKP-Abgeordneten Ibrahim Halil Yıldız im Zusammenhang mit den Lynchmorden an Mitgliedern der kurdischen Familie Şenyaşar verhaftet worden. Den Männern werde Mord und die Vernichtung von Beweisen vorgeworfen, teilte die zuständige Strafkammer am Amtsgericht Urfa mit. Die Ermittlungen richten sich nach Angaben der Staatsanwaltschaft gegen rund vierzig Personen. Neun von ihnen waren am Freitag festgenommen worden, zwei weitere Verdächtige ließ die Behörde am Samstag festsetzen. Noch in der Nacht wurden die Haftbefehle vollstreckt. Bei den Verhafteten handelt es sich um Verwandte von Ibrahim Halil Yıldız: Mikail Şimşek, Müslüm Yıldız, Ibrahim Şimşek und Celal Yıldız. Letzterer ist ein Bruder des Abgeordneten. Die restlichen sieben Tatverdächtigen wurden auf freien Fuß gesetzt, fünf von ihnen jedoch gegen polizeiliche Meldeauflagen.

Heuchlerische Farce der Justizbehörden?

Ob die Strafverfolgungsbehörden tatsächlich Ernst machen wollen bei der juristischen Auseinandersetzung mit den Tätern der Lynchmorde und dem Verschwindenlassen von Beweisen, bleibt allerdings zu bezweifeln. Denn der Schritt kommt reichlich spät: Knapp vier Jahre sind seit den blutigen Vorfällen in Riha vergangen und die Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft konzentrierten sich bisher fast ausschließlich auf Überlebende des Angriffs und weitere Mitglieder der Familie Şenyaşar. Ferit Şenyaşar, der damals überlebte und mit seiner Mutter Emine seit über einem Jahr mit einer Mahnwache jeden Tag vor den Justizpalast von Urfa zieht, um die Bestrafung der Mörder seiner Familienmitglieder einzufordern, spricht von Schönfärberei. „Es ist heuchlerisch, wenn man knapp vier Jahre lang angesichts eines organisierten Massakers in einem staatlichen Krankenhaus untätig bleibt und jetzt, da der Druck auf die Behörden immer größer wird, plötzlich so tut, als würden wir in einem Staat mit Recht leben. Denn Gerechtigkeit, die zu spät kommt, ist und bleibt eine verwehrte Gerechtigkeit. Dies ist mindestens so grausam wie das Massaker selbst.” Von einem Hoffnungsschimmer auf eine gewissenhafte Aufklärung der Morde könne nicht gesprochen werden, solange nicht alle Beteiligten auf der Anklagebank landen. Wann die Staatsanwaltschaft Anklage erheben wird, ist unklar.

Blutbad in Pirsûs

Was ist in Riha damals geschehen? Am 14. Juni 2018, zehn Tage vor der Parlamentswahl in der Türkei, sucht der AKP-Politiker Ibrahim Halil Yıldız in Begleitung von Verwandten und Leibwächtern im Kreis Pirsûs (Suruç) den Familienbetrieb der Familie Şenyaşar auf. Nach einer Diskussion um Stimmen bei der Wahl kommt es zu einer verbalen Auseinandersetzung, die in eine Schießerei mündet. Überwachungskameras fangen ein, dass es die Begleiter von Yıldız sind, die mit Messern, Stöcken, Pistolen und Langfeuerwaffen zum Angriff auf die Ladenbetreiber übergehen. Celal und Adil Şenyaşar sowie Mehmet Şah Yıldız, einer der Angreifer, brechen mit Stich- und Schussverletzungen blutüberströmt zusammen. Auch Ferit und Fadıl Şenyaşar werden verletzt, ihr Zustand ist zunächst weniger kritisch. Celal und Adil werden zusammen mit Ferit in die staatliche Klinik von Suruç gebracht. Fadıl Şenyaşar landet zuerst im Balıklıgöl-Krankenhaus in der Provinzhauptstadt Riha, bevor er in eine Klinik in Amed (Diyarbakır) gefahren wird.

Mehmet Şenyaşar, ein anderer Geschwisterteil, der sich zum Zeitpunkt des Angriffs nicht im Laden aufhält, wird später angeben, seine Brüder am Tatort verblutend vorgefunden und sich unmittelbar nach Abfahrt der Ambulanz mit Celal und Adil in die Klinik von Suruç begeben zu haben. Die Eltern Emine und Hacı Esvet Şenyaşar, die inzwischen über den Angriff informiert sind, eilen zu Fuß in dasselbe Krankenhaus. Doch die Gefolgsleute von Ibrahim Halil Yıldız sind vor den Şenyaşars in der Klinik eingetroffen, Mehmet Şah Yıldız ist kurz darauf tot. Der AKP-Abgeordnete lässt den Notfallbereich stürmen, als Celal und Adil Şenyaşar dort eingeliefert werden. Der Mob zerstört zunächst die Überwachungskameras, bevor die beiden Brüder vor den Augen des behandelnden Gesundheitspersonals auf bestialische Weise ermordet werden.

Die Gerichtsmedizin wird später bei der Autopsie von Celal Einschüsse von Kugeln aus mindestens sechs Schusswaffen verschiedenen Kalibers feststellen. Bei der Untersuchung seines Bruders Adil werden an 14 Stellen des Körpers Schnitt- und Stichverletzungen wie auch Schlagverletzungen mit harten Gegenständen festgestellt. Im Bericht heißt es, dass Adil „extremer Gewalt“ ausgesetzt gewesen ist. In seinem Körper werden siebzehn Kugeln verschiedenen Kalibers gefunden. Von diesen Projektilen sind fünf tödlich. Nur zwei der Geschosse sind nicht aus dem Nahabstand, sondern noch im Laden abgefeuert worden.

„Das sind Vaterlandsverräter, tötet sie“

Mehmet Şenyaşar wird in der Eingangshalle der Klinik von dem AKP-Mob abgefangen und in einen Raum verschleppt. „Es waren chaotische Zustände, die Leute des Abgeordneten riefen: ‚Das sind Vaterlandsverräter, tötet sie.‘ Sie schlagen und treten auf ihn ein, bis er bewusstlos wird. Als er die Augen öffnet, liegt er auf einer Trage. Er bekommt noch mit, dass sein Bruder Ferit direkt neben ihm liegt, als er mit einem Messer verletzt wird. Personal und Polizei bringen die beiden Schwerverletzten in einen Schutzraum, doch auch hier schlägt der Mob wieder zu. „Ein Verwandter von Yıldız trat die Tür ein und gab einen Schuss auf mich ab. Andere wandten sich Ferit zu und schlugen mit Fäusten auf ihn ein, obwohl er bereits bewusstlos war. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich tot zu stellen. Die Polizeibeamten waren aus Angst wie versteinert, weil sie sich vor dem Abgeordneten und seinen Leuten fürchteten“, äußerte Mehmet Şenyaşar damals in einem Interview.

Ungefähr zeitgleich zu den Vorgängen im Schutzraum wird Hacı Esvet Şenyaşar in der Eingangshalle des Krankenhauses von Suruç durch Schläge mit einer Sauerstoffflasche auf den Kopf von dem AKP-Mob ins Koma geprügelt. Seine Ehefrau Emine wird Zeugin davon. Die Klinikleitung hat mittlerweile die Verlegung von Mehmet und Ferit Şenyaşar veranlasst, doch der Terror geht weiter. Der von einer Polizeistreife eskortierte Krankenwagen wird noch im klinikeigenen Garten umzingelt. Ein paar AKP-Leute zerschießen die Reifen, während andere die Windschutzscheibe demolieren. Erst jetzt wird der Provinzgouverneur von Urfa aktiv: wenn auch mit platten Reifen, erreicht die Ambulanz das Polizeipräsidium. Man verfrachtet die Verletzten in einen anderen Krankenwagen und lässt sie in eine Klinik in der benachbarten Provinz Dîlok (Antep) fahren. Auch der Vater Hacı Esvet Şenyaşar wird am Abend dorthin verlegt, verstirbt aber einen Tag später. Zur gleichen Zeit wird in Pirsûs die Beerdigung seiner Söhne Celal und Adil von der türkischen Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern angegriffen.

Zwei Tage vor den Lynchmorden hatte es schon einmal einen Streit zwischen Yıldız, seiner Truppe und den Şenyaşars in ihrem Geschäft in Pirsûs gegeben. „Unsere Kreuze auf dem Wahlzettel werden wir nicht bei der AKP machen“, hätte es geheißen. Warum der Mob kurz daraufhin erneut auf Stimmfang bei der kurdischen Familie ging, ist bis heute unklar. Für Unverständnis sorgt auch weiterhin die Geheimhaltungsverfügung über der Ermittlungsakte zu den Vorfällen im Krankenhaus: Im abgetrennten Verfahren um die Geschehnisse im Geschäft der Şenyaşars, der nicht in Riha sondern „aus Sicherheitsgründen“ in Meletî (Malatya) verhandelt wurde, gab es 2021 mehrere Urteile. Von den Angreifern wurde aber nur Enver Yıldız, ein Bruder von Ibrahim Halil Yıldız, wegen Mordes verurteilt. Zunächst lautete das Strafmaß noch lebenslänglich, wurde dann aber auf 18 Jahre herabgesetzt. Das Gericht wertete es als strafmildernd, dass die Tat „spontan aus einem eskalierenden Streit heraus“ geschehen sei. Die übrigen angeklagten Angreifer – acht an der Zahl – wurden wegen Körperverletzung zu verschiedenhohen Haftstrafen zwischen elf Monaten und knapp fünf Jahren verurteilt.

Überlebender zu fast 38 Jahren Haft verurteilt

Demgegenüber erhielt Fadıl Şenyaşar aufgrund der Tötung von Mehmet Şah Yıldız eine Haftstrafe in Höhe von mehr als 37 Jahren – wegen Mord, versuchtem Mord in fünf Fällen, schwerer Körperverletzung in zwei Fällen und illegalem Waffenbesitz. Und dass, obwohl Überwachungsaufnahmen zeigen, dass er von AKP-Leuten zusammengeschlagen wird, als Yıldız von einer Kugel getroffen wird – die aus einer Waffe des Mobs stammt. Wie viele Personen an allen Übergriffen auf die Şenyaşars beteiligt gewesen sein sollen, darüber hüllt sich die Staatsanwaltschaft bislang in Schweigen. Nach Angaben des Verteidigungsteams der Familie begann die Identifizierung der Verdächtigen erst rund ein Jahr nach den Lynchmorden und wurde erst kürzlich abgeschlossen. Neben Hinweisen von Zeugenpersonen wurde für die Identitätsfeststellungen hauptsächlich das Videomaterial aus Polizeifahrzeugen verwendet, die vor dem Krankenhaus parkten.