Nach Jahren der Kontaktsperre hat Abdullah Öcalan, Vordenker der kurdischen Bewegung und seit 1999 auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali inhaftiert, Besuch von seiner Familie erhalten. Anlass war das islamische Opferfest (ANF berichtete). Der mehrstündige Besuch, an dem unter anderem Öcalans Neffen Ömer und Ali Öcalan teilnahmen, hatte vorletzten Samstag stattgefunden und auch erstmals ein Zusammentreffen mit Kindern umfasst. Neben persönlichen Momenten wurde dabei eine breite Palette politischer Themen besprochen, darunter eine mögliche Lösung der kurdischen Frage, der Demokratisierungsprozess in der Türkei, die Rolle der DEM-Partei, Entwicklungen in Syrien und die Konflikte in Nahost.
Grüße an Familienmitglieder
Öcalan analysierte geopolitische Entwicklungen, formulierte strategische Empfehlungen und rief zu Erneuerung, Disziplin und Einheit auf – sowohl innerhalb der kurdischen Bewegung als auch gegenüber der staatlichen Politik. Gegenüber der Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) äußerte sich der DEM-Abgeordnete Ömer Öcalan nun ausführlich zu den Inhalten des Treffens und Gesprächsschwerpunkten. Laut Öcalan begann das Gespräch mit persönlichen Rückblicken und Grüßen an Familienmitglieder. Sein 76-jähriger Onkel habe sich nach Verwandten erkundigt und Grüße übermittelt. Danach sei das Gespräch rasch politischer geworden. Themen wie Gedenkveranstaltungen für die PKK-Gründungsmitglieder Ali Haydar Kaytan und Rıza Altun hätten breiten Raum eingenommen. Öcalan betonte mehrfach die Bedeutung des Gedenkens und des Weitertragens der „ideellen Hinterlassenschaften“ der Gefallenenbewegung innerhalb der PKK-Tradition.
Ömer Öcalan © MA
Kämpfe der Gefallenen weitertragen
Er erkundigte sich nach den Grabstätten von Mazlum Doğan und Delil Doğan und betonte, dass ihre „Kämpfe weitergetragen“ werden müssten. Außerdem fragte er nach den Gräbern der frühen PKK-Kader Ferhat Kurtay, Eşref Anyık, Mahmut Zengin und Necmi Öner, die am 17. Mai 1982 durch Selbstverbrennung im Foltergefängnis in Amed (tr. Diyarbakır) starben und mit ihrer Aktion ein antifaschistisches Fanal gegen die türkische Militärjunta setzten.
Appell an „Lebenslängliche“
Ein besonderer Schwerpunkt des Treffens war die Situation ehemaliger politischer Langzeitgefangener. Öcalan habe, so Ömer Öcalan, betont, dass „Lebenslängliche“, die 30 Jahre und mehr in Haft verbracht haben, nun in der Gesellschaft eine „führende Rolle“ einnehmen müssten. Er habe ihnen ausdrücklich seine Grüße übermittelt und gefordert, dass sie „überall dort, wo sie leben, Orientierung geben und Verantwortung übernehmen“ sollten.
Demokratische Bildung und Universitäten
Ein weiterer zentraler Punkt war laut Ömer Öcalan die Diskussion um Bildung in Nord- und Ostsyrien. Abdullah Öcalan habe sich über die Arbeit der Universität Kobanê informiert gezeigt und deren Rolle für die gesellschaftliche Entwicklung betont. Bildung solle, so seine Einschätzung, nicht den Prinzipien der „kapitalistischen Moderne“ folgen, sondern „demokratischen Moderne“ fördern. Lehrer:innen müssten das „revolutionäre Paradigma“ vermitteln und junge Generationen dazu befähigen, die Region auf der Basis von Gleichheit, Ökologie und Frauenbefreiung mitzugestalten.
Syrien, Autonomieverwaltung und diplomatische Prozesse
Öcalan bewertete im Gespräch auch die schleppenden Verhandlungen zwischen der Autonomieverwaltung Nordostsyriens und der syrischen Übergangsregierung, vor allem im Hinblick auf das Acht-Punkte-Abkommen zwischen den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) und Damaskus. Er rief zu einer Beschleunigung der Gespräche auf und betonte, dass sich langfristig zwei Systeme in Syrien herausbilden könnten. Ein demokratisch verfasstes Syrien sei notwendig, um Stabilität zu erreichen.
Öcalan analysierte den Gegensatz zwischen verschiedenen politischen Zentren in Syrien: Während Damaskus weiterhin eine dschihadistisch-konservative Repräsentation aufweise, sei Raqqa als ein potenzielles Zentrum demokratischer Transformation zu verstehen. In diesem Kontext betonte er die Dringlichkeit, die institutionellen und politischen Entwicklungen in Rojava weiter zu konsolidieren. Eine schleppend verlaufende Diplomatie sei seiner Ansicht nach für keine der beteiligten Seiten von Nutzen.
Abschließend habe er sich auch zur sicherheitspolitischen Lage der Kurd:innen in Rojava geäußert und betont, dass potenziellen Bedrohungen mit erhöhter Aufmerksamkeit und strategischer Vorsicht begegnet werden müsse.
Zur Rolle der DEM-Partei
Ein umfangreicher Teil des Gesprächs drehte sich um die Rolle und das Potenzial der DEM-Partei in der Türkei. Ömer Öcalan erläuterte, dass aus Sicht Abdullah Öcalans ein umfassender Erneuerungsprozess in sämtlichen Bereichen notwendig sei. Im Rahmen des Treffens sei einerseits eine retrospektive Analyse der vergangenen 52 Jahre vorgenommen worden, andererseits habe eine Diskussion über neue politische Strategien und alternative gesellschaftliche Modelle stattgefunden. In diesem Kontext habe Öcalan seine Auffassungen zu Transformationsnotwendigkeiten klar formuliert.
Er betonte insbesondere die strategische Bedeutung der DEM und verwies auf das bisher ungenutzte Potenzial der Partei, insbesondere in Regionen außerhalb der kurdisch geprägten Gebiete. So sprach er davon, dass innerhalb der Partei auch Mitglieder mit Herkunft aus der Schwarzmeerregion aktiv seien und dort gezielte politische Arbeit beginnen sollten. Darüber hinaus forderte er eine flächendeckende organisatorische Präsenz in sämtlichen Metropolregionen der Türkei.
Abdullah Öcalan vertrat die Auffassung, dass die DEM bei einer Ausweitung ihrer sozialen und politischen Basis durchaus in der Lage sei, einen Stimmenanteil von 20 Prozent zu erreichen – was ihr potenziell eine Regierungsbeteiligung ermöglichen würde. In einem solchen Szenario könne sie substanzielle politische Veränderungen herbeiführen. Diese Transformation müsse allerdings in konkretes politisches Handeln und Wahlergebnisse übersetzt werden.
Er hob hervor, dass eine solche Entwicklung nur durch eine demokratisch fundierte Politik erreichbar sei. Sollte die DEM-Partei diesen Stimmenanteil überschreiten, eröffne sich für sie die Möglichkeit, auch auf regionaler Ebene im Nahen Osten eine stärkere politische Wirksamkeit zu entfalten.
Abschließend analysierte Öcalan die bisherige politische Praxis der Partei kritisch. Er plädierte für einen Bruch mit wiederholten, ergebnislosen diplomatischen Initiativen und forderte stattdessen eine strategische Neuausrichtung. Politische Prozesse seien durch Wandel und Dynamik gekennzeichnet; Wiederholungen ohne Wirkung seien zu vermeiden. Diese notwendige Erneuerung müsse sowohl innerhalb der Partei als auch auf der Ebene des politischen Führungspersonals stattfinden.
Alevit:innen, Ezid:innen und historische Selbstkritik
Abdullah Öcalan habe sich zudem differenziert zu verschiedenen Bevölkerungsgruppen geäußert. Zu Alevit:innen sagte er, dass er ihre Kritik ernst nehme und im Gefängnis „auch für ein richtig verstandenes Alevitentum“ arbeite. Er würdigte Persönlichkeiten wie Seyit Rıza und sprach sich für eine ehrliche historische Analyse der kurdischen Aufstände aus – einschließlich der Rolle von Şêx Seîd. Auch die Ezid:innen und die Situation in Şengal wurden angesprochen. Öcalan sprach sich für eine selbstverwaltete, autonome Struktur in Şengal aus, die weder der irakischen Zentralregierung noch regionalen Parteien unterstehen solle.
Persönliche Momente mit Großnichten
Besonders berührend war laut Ömer Öcalan der Moment, als Abdullah Öcalan seinen Großnichten begegnete. Er habe sich intensiv mit den Kindern beschäftigt, Fragen zu ihrer Erziehung gestellt und allgemeine Empfehlungen zur kindlichen Entwicklung gegeben. Öcalan sprach dabei auch über gesunde Lebensführung. Dabei habe er betont, dass Disziplin und Gesundheit zentrale Werte im Alltag darstellen sollten. Insbesondere warnte er davor, an Gewicht zuzunehmen oder gesundheitsschädliche Gewohnheiten wie das Rauchen zu pflegen – auf solche Verhaltensweisen reagiere er kritisch und spreche deutliche Warnungen aus. Auch die erwachsenen Besucher seien von ihm zu Lebensweise und Gesundheitszustand befragt worden. Seine Empfehlung lautete: „Jeder Mensch sollte im Alltag mit der gleichen Disziplin handeln wie ein Soldat im militärischen Dienst. Dies ist Ausdruck einer gelebten Wirklichkeit.“
Begegnung mit Ömer Hayri Konar und Hamili Yıldırım
Im Rahmen des Besuchs traf Ömer Öcalan zudem erstmals auf die ebenfalls auf Imrali inhaftierten politischen Gefangenen Ömer Hayri Konar und Hamili Yıldırım. Die Begegnung sei herzlich verlaufen, es habe eine emotionale Begrüßung gegeben. Konar und Yıldırım hätten sich nach der Lage außerhalb der Haftanstalt erkundigt. Ömer Öcalan habe ihnen vermittelt, dass sie außerhalb sehr wohl wahrgenommen und beobachtet würden. Beide hätten darauf geantwortet, dass auch ihr Blick auf die Entwicklungen in der Außenwelt gerichtet sei und sie wüssten, dass „Einsatz und Arbeit notwendig“ seien. Sie hätten – ähnlich wie Abdullah Öcalan – einen gefestigten und moralisch gestärkten Eindruck gemacht und betont, dass sie die außenpolitischen und gesellschaftlichen Entwicklungen aufmerksam verfolgten.
Analyse zur Lage im Nahen Osten und internationale Konflikte
Zum Abschluss des Gesprächs äußerte sich Abdullah Öcalan zur politischen Situation in der Region, insbesondere zum wachsenden Spannungsverhältnis zwischen Israel und Iran. Bereits vor Monaten habe er vor einer Eskalation gewarnt. Sollte der Weg demokratischer Lösungen versperrt bleiben, drohe der Region „eine Vervielfachung der Gazzas“. Öcalan unterstrich, dass ohne Demokratisierung, gegenseitige Anerkennung und soziale Gerechtigkeit ein dauerhafter Frieden im Nahen Osten unmöglich sei. Er kritisierte insbesondere das iranische System, das er als „unterdrückerisch gegenüber Frauen, Kurd:innen und Andersdenkenden“ beschrieb. Auch die Folgen des Krieges würden letztlich von der Zivilbevölkerung getragen. In diesem Zusammenhang forderte er die kurdische Bewegung zu innerer Einheit und gestärkter Selbstverteidigung auf. Ein friedlicher Naher Osten sei nur auf Grundlage von Pluralismus und Gleichberechtigung möglich.
Forderung nach staatlicher Verantwortung
Ömer Öcalan schloss seine Ausführungen mit einem Appell an den türkischen Staat. Angesichts der vielfältigen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen müsse dieser endlich „seiner historischen Verantwortung gerecht werden“ und konkrete Schritte für Frieden und Demokratisierung einleiten. Es sei an der Zeit für einen gesamtgesellschaftlichen Wandel – innerhalb der Türkei wie auch im weiteren Nahen Osten, so der Abgeordnete.