Amed: Die Mauer der Unterdrückung durchbrechen

Berivan Edin hat ihren Ehemann Sahip während der Militärbelagerung von Cizîr verloren. In Amed beteiligt sie sich an den Mahnwachen gegen die Zwangsverwaltung und fordert: „Jeder muss sich erheben, um die Mauer der Unterdrückung zu durchbrechen.“

In Nordkurdistan finden seit knapp fünf Wochen Sitzstreiks gegen die Einsetzung von Treuhändern in den HDP-geführten Rathäusern statt. Am 19. August waren die Oberbürgermeister*innen der Großstädte Mêrdîn (Mardin), Wan (Van) und Amed (Diyarbakir) von der Regierung unter Dirigentschaft des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ihres Amtes enthoben und durch Zwangsverwalter ersetzt worden. Die HDP bezeichnete diese Maßnahme als politischen Putsch gegen den Willen der Bevölkerung und rief zu ununterbrochenen Protesten auf. Als erster Schritt zu legitimen und antiautoritären Reaktionen wurde beschlossen, „Mahnwachen für Demokratie“ in den von Treuhändern geführten Städten abzuhalten. Gestern fanden dort die mittlerweile 33. Mahnwachen statt. Das Interesse daran ist ungebrochen. Unter Beteiligung zahlreicher zivilgesellschaftlicher Organisationen, Gewerkschaften, Vereinen und den Friedensmüttern steigt die Zahl der Teilnehmenden mit jedem Tag an.

In Amed findet das Sit-in auf der Lise Caddesi gegenüber dem Gouverneursamt im zentralen Stadtteil Bajarê Nû (Yenişehir) statt. Eine der Teilnehmer*innen ist Berivan Edin, eine Gefallenenangehörige aus Cizîr (Cizre). Ihr Ehemann Sahip Edin nahm im Spätsommer 2015 am Widerstand für die damals in einer Reihe von kurdischen Städten proklamierte Selbstverwaltung teil und wurde im Zuge der daraufhin erlassenen Ausgangssperre von staatlichen Kräften ermordet. Wann genau Sahip Edin getötet wurde, ist bis heute unklar. Seinen Leichnam fand man erst im März 2016 in einer Truhe in einem Haus im Stadtteil Cûdî. Bei der Belagerung von Cizîr kamen noch mindestens 280 weitere Menschen ums Leben, viele von ihnen in den berüchtigten Todeskellern, unter anderem auch Sahip Edins 22-jähriger Bruder Mehmet und dessen Ehefrau. In 262 Fällen konnte die Identität der Opfer festgestellt werden, weitere 18 Menschen sind noch immer auf dem Friedhof der Namenlosen begraben. Auch Städte wie Sûr, Nisêbîn und Şirnex wurden damals belagert. Heute existieren sie teilweise nicht mehr, da sie vom Staat regelrecht dem Erdboden gleichgemacht wurden.

In Cizîr wurde damals im Dezember 2015 das zweite Ausgangsverbot erklärt. 25 Tage später erfuhr Berivan Edin, dass sie mit ihrem vierten Kind schwanger ist. Um ihre eigene Sicherheit und die ihrer Kinder nicht zu gefährden, entschloss sie sich, das Viertel zu verlassen. Ihr Mann Sahip blieb. Einige Monate später - Sahip Edin war bereits in Cizîr begesetzt worden - brachte Berivan Edin ihr viertes Kind zur Welt, das sie nach dessen Vater benannte. Mit Sahip Baran Edin sitzt sie nun auf der Lise Caddesi und verteidigt den geraubten Willen der Bevölkerung und sagt: „Für Cizîr reichte unsere Stimme nicht aus, alle haben geschwiegen. Doch für die Verteidigung unseres Willens müssen wir uns überall in Kurdistan erheben und die Mauer der Unterdrückung durchbrechen.“

Sahip Baran Edin ist heute drei Jahre alt. Er gehört zu den vielen Kindern Kurdistans, die bereits im Mutterleib zu Zeugen von Massakern, Widerstand und Kämpfen werden. Im Schoss seiner Mutter hat er seinen Platz unter den vielen Menschen gefunden, die eingekreist im Polizeikessel gegen die Beschlagnahme der kurdischen Kommunalverwaltungen protestieren. Seine Mutter Berivan hält einer Fahne in der Hand, auf der steht: „Verteidige deinen Willen“. Zwischendurch trillert sie das kurdische „Tililî“.

Berivan Edin ist wütend. Wütend gegenüber dem Staat. Das türkische Militär ging in Cizîr mit äußerster Brutalität gegen die kurdische Zivilbevölkerung vor. Über die Zeit mit ihrem Ehemann erzählt sie: „Wir waren im neunten Jahr verheiratet und lebten ein ganz normales Leben.“ Etwas später kommt sie auf die Reaktion ihrer Kinder zu sprechen, wenn diese auf ihren Vater angesprochen werden: „Sie antworten dann, dass er von der Polizei ermordet wurde.“ Berivans Sohn Süleyman wolle aber noch immer nicht wahrhaben, dass sein Vater tot ist.

„Die Unterdrückung wird sich nicht auf Amed beschränken. Morgen werden auch alle restlichen Städte Kurdistans an der Reihe sein. Diese Politik wird kein Ende haben. Das Schweigen muss endlich gebrochen werden. Jeder muss sich erheben und zur Stimme für Frieden und Geschwisterlichkeit werden. Wir kämpfen hier für die Existenz unseres Willens. So etwas wie Unterdrückung werden wir nicht hinnehmen. So wie unser Widerstand gestern die Isolation durchbrechen konnte, wird er heute die Zwangsverwaltung zerschlagen“, ist sich Berivan Edin sicher.