Mêrdîn: Ein Kampf um unsere Zukunft

Seit 30 Tagen protestieren Menschen in Mêrdîn gegen die Absetzung des Bürgermeisters Ahmet Türk. Insbesondere für die jüngeren Teilnehmer*innen ist es auch ein Kampf um ihre Zukunft.

In den kurdischen Großstädten Amed (Diyarbakir), Wan und Mêrdîn (Mardin) wurden vor mehr als vier Wochen die Bürgermeister*innen abgesetzt und durch Treuhänder der Regierung ersetzt. Es ist bereits das zweite Mal, dass demokratisch gewählte Kommunalverwaltungen unter Zwangsverwaltung gestellt werden. Im Herbst 2016 waren ungefähr hundert kurdische Bürgermeisterinnen und Bürgermeister abgesetzt und inhaftiert worden. Erst bei den Kommunalwahlen am 31. März 2019 zogen wieder gewählte Vertreter*innen in die Rathäuser kurdischer Städte und Gemeinden ein.

Die Demokratische Partei der Völker (HDP) sieht in dieser Maßnahme einen neuen politischen Putsch, der die feindliche Haltung zum erklärten Willen des kurdischen Volkes zeigt. Seit 30 Tagen finden in Amed, Wan und Mêrdîn „Mahnwachen für Demokratie“ gegen die Usurpation der kurdischen Rathäuser statt. Wir haben uns in Mêrdîn mit einigen Teilnehmer*innen der Proteste unterhalten.

Geschichte wiederholt sich

Eşref Mamedoğlu ist einer von ihnen. Eigentlich stammt er aus Farqîn (Silvan) in Amed, lebt aber schon länger in Mêrdîn. Im Gespräch mit unserer Agentur erklärt er zur Zwangsverwaltung in Kurdistan: „Dass wieder Statthalter in den Kommunen eingesetzt wurden, müssen wir mit einem breiten Blick auf die Vergangenheit analysieren. Schon bei der Gründung der türkischen Republik führte die Assimilierungspolitik der Türkei zur Unterdrückung der kurdischen Kultur und Identität. Wir müssen uns daran erinnern, dass Kurden in Koçgirî, Dersim, Wan und anderen Orten Opfer von Genoziden wurden. Menschen, die ihre Freiheit einforderten, wurden massakriert. Heute wiederholt sich die Geschichte von damals – wenn auch in anderer Form – durch die Hand der Zwangsverwalter. Wenn wir nicht alle Aspekte nicht berücksichtigen, können wir nicht vollständig verstehen, weshalb wir es wieder mit ihnen zu tun haben.“

Der Aktivist verweist auf Denkmäler, die an Massaker des türkischen Staates erinnerten und in den letzten Jahren von Zwangsverwaltern abgerissen wurden. In der Stadt Licê ließ ein AKP-Treuhänder beispielsweise als eine seiner ersten Amtshandlungen den nach der 2009 von einer vom türkischen Militär abgefeuerten Granate getöteten zwölfjährigen Ceylan Önkol benannten Park umbenennen. Ein Denkmal in Qoser (Kızıltepe) für den 2004 von Sicherheitskräften mit 13 Kugeln hingerichteten zwölfjährigen Uğur Kaymaz und seinen Vater Ahmet wurde auf Befehl eines Zwangsverwalters eingerissen und stattdessen ein Uhrenturm errichtet. Mit Maßnahmen wie diesen sollte versucht werden, die gesellschaftliche Erinnerung an diese Massaker auszulöschen. Anstelle der Denkmäler der Ermordeten wurden Denkmäler für getötete Soldaten und Polizisten gestellt. Für Eşref Mamedoğlu stellt der Widerstand gegen die Zwangsverwaltung auch einen Kampf für das Andenken an Kinder wie Ceylan Önkol und Uğur Kaymaz dar.

Widerstand bis zum Schluss

Ein anderer Aktivist, mit dem wir sprechen, ist Mithat Kıran. Er sagt: „Die Entsendung von Treuhändern bedeutet nichts anderes, als den Willen des Volkes in Beschlag zu nehmen. Diese Entscheidung hat weder eine rechtliche Grundlage noch eine politische. Es geht im Grunde einfach darum, den Zerfall des Fundaments des faschistischen Blocks zu verschleiern und von den Problemen in der Außenpolitik abzulenken. Wir hier sind entschlossen, an unserem Widerstand festzuhalten. Wir geben nicht auf. Unsere auf legitime und gerechtfertigte Weise erkämpften Rechte holen wir uns gleichermaßen zurück.“

„Demonstration ihrer Intoleranz den Kurden gegenüber“

Nazım Kök beteiligt sich ebenfalls an den Mahnwachen. Er gibt an, dass die Begründungen für die Zwangsverwaltung vollkommen erfunden seien. Laut dem Innenministerium ergebe sich die rechtliche Grundlage für die Ernennung von Treuhändern anstelle der gewählten Bürgermeister*innen unter anderem dadurch, dass die HDP mit dem System der Doppelspitze, bei der alle Ebenen paritätisch mit Frauen und Männern besetzt werden, unbefugte Personen in offizielle Positionen gebracht und auf Anordnung der PKK eine nicht verfassungsmäßige politische Struktur eingeführt zu haben, die nicht mit den offiziellen politischen Regeln und Vorschriften zu vereinbaren sei. „Völliger Quatsch“, meint Kök. „Unser Parteiprogramm ist nicht erst seit gestern bekannt.“ Das Prinzip der genderparitätischen Doppelspitze wurde im türkischen Parlament mit den Stimmen der AKP durchgesetzt. Bisher hat es lediglich die HDP funktionsfähig gemacht.

Warum die Regierung dennoch eigene Leute für HDP-geführte Stadtverwaltungen ernannt hat, sei mit einfachen Worten zu erklären, sagt Kök: „Es ist die Demonstration ihrer Intoleranz den Kurden gegenüber. Die AKP ist fälschlicherweise im Glauben, uns auf diese Weise unter ihrer Kontrolle zu bringen. Dabei irrt sie sich gewaltig.“

Null Toleranz für die Zwangsverwalter

Ein weiteres Gespräch führen wir mit der Aktivistin Renas Savuş. Die junge Frau erklärt uns ebenfalls, weshalb sie an den Sit-ins in Mêrdîn teilnimmt: „Ich bin hier, um meine Zukunft und meinen Willen zu verteidigen. Ich bin hier als Frau, Mensch und Volk. Ich bin hier, weil ich die Stimme meines Gewissens klar vernehme und meine Augen vor diesem Unrecht nicht verschließen werde. Ich kann meine Zukunft nicht einfach in die Hände anderer legen, sondern muss um sie kämpfen. Selbst wenn die Zwangsverwalter unseren Willen an sich gerissen haben, werden wir sie nicht als Repräsentanten unserer Städte anerkennen. Ihre Zeit ist begrenzt, wir sind es, die immer bleiben werden.“