Abdullah Öcalan gilt der kurdischen Freiheitsbewegung als legitimer Repräsentant. Seit seiner völkerrechtswidrigen Verschleppung im Februar 1999 aus der griechischen Botschaft in der kenianischen Hauptstadt Nairobi befindet sich der kurdische Vordenker auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali. Elf Jahre war er dort der einzige Häftling – bewacht von mehr als tausend Soldaten. Zwischen Juli 2011 und Mai 2019 wurde ihm jeglicher Rechtsbeistand verwehrt. Öcalan hält so den „Europa-Rekord“ für Haft ohne Zugang zu Anwälten. Erst eine von der Politikerin Leyla Güven im Herbst 2018 initiierte Hungerstreikbewegung hatte es ermöglicht, dass die Isolation auf Imrali – wenn auch nur vorübergehend – durchbrochen werden konnte. Seit über einem Jahr befindet sich Öcalan wieder faktisch in Totalisolation. Entgegen der europäischen Rechtsprechung, den Forderungen des Antifolterkomitees (CPT) und einer Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ist der türkische Staat nach wie vor nicht bereit, die Isolation auf Imrali aufzuheben. Wir haben mit dem Hamburger Völkerrechtler Prof. Dr. Norman Paech über die Hintergründe gesprochen.
Wieso befindet sich Abdullah Öcalan noch immer im Gefängnis?
Das letzte Mal, dass ich Abdullah Öcalan gesprochen habe, war 1999 in Lido di Ostia bei Rom. Dorthin war er geflogen und hatte dort zeitweiliges Asyl durch die italienische Regierung, aber dann haben wir lange darüber diskutiert, was man machen sollte und wohin man in Europa überhaupt gehen könnte, wo man sicher sein könnte. Es stellte sich heraus: in keinem der europäischen Länder war Abdullah Öcalan sicher. Von Anfang an war er ein gezeichneter Mann, den niemand haben wollte. Schließlich wurde er von den Griechen nach Kenia verfrachtet und unter Assistenz der USA und auch des israelischen Geheimdienstes von den Türken gefangen. Dies ist, würde ich sagen, ein richtiges Verbrechen. Einen solchen Mann, der von einer wirklich eminenten politischen Bedeutung ist, einfach zu isolieren und hinter Gitter zu stecken, für so lange. Der Hintergrund ist ganz klar: Europa ist sich einig darüber, und davon zeugen auch die vielen Prozesse hier in Deutschland, dass man mit dieser Befreiungsbewegung nichts zu tun haben will. Man kooperiert lieber mit einem kriminellen Erdogan als mit dieser Bewegung.
Warum ist Öcalan Ziel dieser Staaten geworden, die an seiner Verschleppung beteiligt waren?
Bis Abdullah Öcalan die Führung der kurdischen Bewegung übernahm, wurde man mit dieser Bewegung ziemlich gut fertig. Das heißt, man brauchte sie nicht zu beachten, sie machte keine Probleme. Aber Öcalan hat die Identität der Kurden wiederhergestellt und ihr Bewusstsein von einem eigenen Volk, von einem eigenen Selbstbestimmungsrecht und von einer Notwendigkeit, als Volk akzeptiert und gleichberechtigt behandelt zu werden. Dadurch hat er sehr viel Unruhe in diesen Ländern hervorgebracht, weil die Kurden verteilt auf mehrere Länder ihre Rechte jetzt endlich einforderten. An sich ist das nach den Werten dieser westlichen Regierungen das normalste und das akzeptierteste, was man haben kann. Aber man wollte sich nicht mit dieser Bewegung und mit diesen Rechten gegen einen NATO-Partner stellen. Und das ist leider bis heute so geblieben.
Immer wieder ist der EGMR angerufen worden, weil auf der Gefängnisinsel Imrali, auf der Öcalan seit 1999 inhaftiert ist, gegen die Menschenrechte verstoßen wird. Auch wurden vor dem Hintergrund der erschwerten Isolationshaftbedingungen Öcalans Beschwerden beim Antifolterkomitee (CPT) eingereicht. Warum schweigen die europäischen Länder weiterhin?
Das ist ein sehr dunkles Kapitel der Menschenrechtspolitik im Westen, aber auch in Deutschland. Man akzeptiert, dass Erdogan im Norden Syriens eingreift, dort interveniert, Efrîn und den Norden von Rojava besetzt. Man kritisiert ihn zwar, aber man tut nichts dagegen. Und man muss sehen, dass er im Grunde eine Kollaboration zwischen diesen Regierungen aufrechterhält. Der Hintergrund ist ganz klar, die Türkei ist ein NATO-Partner. Man hat gemeinsame Interessen gegenüber dem Mittleren Osten, aber man hat auch gemeinsame Interessen, eine hohe Mauer gegenüber den Flüchtlingen, die man ja selbst verursacht hat, aufrechtzuerhalten. Die Kriege, die man dort geführt hat, sind diejenigen, die die Flüchtlinge jetzt nach Europa treiben. Erdogan spielt eine immense Rolle, die Flüchtlinge von Europa fern zu halten. Das ist einer der Kernpunkte dieser Kollaboration mit dieser Regierung.
Liegt die Situation Öcalans und seine Isolation im Zentrum dieses Konflikts?
Ich bin der Überzeugung, man ist nicht bereit – wir haben ein ähnliches Problem in Palästina, auch dort ist man nicht bereit, ein Volk, welches nicht nur juristisch sondern politisch und moralisch ein Selbstbestimmungsrecht und ein Recht auf ein des Menschen würdiges Dasein hat, so zu unterstützen, dass diese Rechte nicht nur eingefordert, sondern auch erfüllt werden können. Das sind zwei Völker im Mittleren Osten, die vom Westen verlassen worden sind. Es ist notwendig, dass man immer wieder daran erinnert, dass dieses ungelöste Rätsel und wirklich große Loch ein weißes Feld in der Politik des Westens ist.
Könnten durch die Lösungsvorschläge Abdullah Öcalans die Konflikte im Mittleren Osten überwunden werden?
Da erinnere ich mich auch an mein erstes Gespräch mit Abdullah Öcalan in Damaskus, das war Pfingsten 1996. Dort haben wir über die Perspektiven der Kurden im Mittleren Osten gesprochen. Und damals war es schon klar, dass er den alten Plan eines selbstständigen Kurdistans aufgegeben hatte. Er sagte, das kurdische Volk sei noch nicht so weit, die Zukunft liege in einer Föderation der Völker im gesamten Nahen und Mittleren Osten. Das heißt, es war eine ausgesprochen friedliche Perspektive in einer Zukunft, in einer Föderation der vielen Völker, die ja dort leben, und unbeeinträchtigt von den alten kolonialen Grenzen, die sich mit der Zeit auflösen müssten, um eine demokratische Existenz aller Völker zu gewährleisten. Das war sein Ziel. Und Rojava ist heute eines jener Projekte, das sehr spät, aber im Grunde auch als das einzige und das erste, das versucht, diese Perspektive zu realisieren und gleichfalls angegriffen wird von der Türkei, von Syrien. Das heißt, hier ist nach wie vor eine große offene Wunde der Demokratie und der Menschenrechte.
Was hätte die Freiheit Abdullah Öcalans für einen Einfluss auf die Entwicklungen in Kurdistan und dem Nahen und Mittleren Osten?
Wenn Öcalan freikäme, wäre das ein absolutes Signal für eine totale Umänderung der Politik einerseits der Türkei, allerdings dann auch der USA und jener Mächte, die im Mittleren Osten permanent intervenieren. Es wäre vielleicht der Ausgangspunkt für eine demokratische Öffnung aller Regierungen hin dazu, dass die vielen Völker, die dort nebeneinander wohnen, gleichberechtigt und demokratisch organisiert, friedlich nebeneinander existieren können.
Sie haben Öcalan das erste Mal 1996 getroffen. Wie war Ihr erster Eindruck von ihm?
Damals war er noch voller Optimismus, obwohl er ziemlich eingeschränkt in der Nähe von Damaskus leben musste. Er hatte lange mit uns gesprochen, wir waren eine kleine Delegation von Wissenschaftlern. Es gab zwei wesentliche Punkte, die uns dort beschäftigten: Einmal die Zukunft des bewaffneten Kampfes, von der er ja dann Abstand nahm. Auch 1996, wo wir einer Meinung waren darüber, dass gegenüber einem so hochgerüsteten NATO-Staat ein bewaffneter Kampf keine Perspektive auf Erfolg haben könnte. Das zweite war die Frage der zukünftigen Struktur und Existenz des kurdischen Volkes, wo Öcalan dann eben auch Abstand nahm von Separation, Sezession, was bis heute den Kurden immer wieder vorgeworfen wird. Er hat sich schon damals für eine demokratische Autonomie und Selbstverwaltung innerhalb der Grenzen der Türkei ausgesprochen. Dies waren die wesentlichen Elemente und wir haben lange darüber diskutiert. Es war ein offenes, sehr freizügiges und auch sehr diskursives Gespräch.
Dieses Projekt hat er auf Imrali weitergeführt.
Ja. Das sind sozusagen die Grundpositionen, die er ja auch in Imrali immer wieder in seinen großen Werken zugrunde gelegt hat. Das war für ihn eigentlich immer das Problem: wie kann man auf demokratische Weise, unter Achtung aller Menschenrechte, ein menschenwürdiges Leben – nicht nur den Kurden, sondern auch allen anderen Völkern in diesem großen mittelöstlichen Bogen – garantieren. Das war für ihn und ist für ihn in seinen Schriften eigentlich der Cantus firmus, sozusagen die Basis aller Argumentation.
Norman Paech wurde 1938 in Bremerhaven geboren. Nach Studien der Kunst-Geschichte, Literatur, dann des Rechts an den Universitäten Tübingen, München und Paris kam er 1959 zum Jura-Studium an die Universität Hamburg. Nach seiner Promotion absolvierte er Ende der 1960er Jahre ein Zusatzstudium am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik Berlin und war etwa vier Jahre lang tätig im Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit in Bonn; ab Mitte der 1970er Jahre arbeitete er als Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Hamburg, danach bis zu seiner Emeritierung 2003 als Professor für öffentliches Recht an der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP). Von 2005 bis 2009 war er Mitglied des Deutschen Bundestags und außenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE. Er ist Mitglied diverser fortschrittlicher Vereinigungen wie VDJ, IALANA und IPPNW, sowie Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von attac. Hauptschwerpunkt seiner Tätigkeit: die Friedensbewegung.
Norman Paech hat zahlreiche erhellende Bücher veröffentlicht: 2019 erschien „Menschenrechte. Geschichte und Gegenwart — Anspruch und Realität“, mit seinem Bremer Kollegen Gerhard Stuby schrieb er 2005 (aktualisiert 2013) das Standardwerk „Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen“. Für Abdullah Öcalans Verteidigungsschriften „Zur Lösung der kurdischen Frage - Visionen einer demokratischen Republik“ hat Paech das Vorwort geschrieben. Auch im Sammelband „Das freie Leben aufbauen – Dialoge mit Abdullah Öcalan“, einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Denken und Schreiben des PKK-Begründers und seinem politischen Einfluss findet sich ein Beitrag von Norman Paech.