Norman Paech: Es lohnt sich, für die Utopie zu kämpfen

Der Völkerrechtler Prof. Norman Paech über seine erste Begegnung mit dem PKK-Gründer Abdullah Öcalan.

Seit zweieinhalb Jahren wird Abdullah Öcalan in totaler Isolation auf der Insel Imrali wie in einem Käfig gehalten. Niemand aus seiner Familie, keiner seiner Freunde, seiner Anwälte und der Zehntausende seiner Anhänger weiß, wie es ihm geht.  Das ist das Dunkel, in dem Gerüchte entstehen und Spekulationen umlaufen.

In Deutschland hingegen sind die Medien und die Politik voll Sorge und Empörung über das Schicksal der zahlreichen Journalistinnen und Journalisten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie der Intellektuellen, die nun seit einigen Monaten in den überfüllten Gefängnissen auf ihre Prozesse warten. Doch kein Wort zur menschenunwürdigen Situation auf Imrali.

Kein Zweifel, es ist ein Skandal, was in der Türkei derzeit als Verfolgung unschuldiger Demokraten abläuft, die allein ihr Recht auf Meinungsäußerung beanspruchen. Aber es ist auch ein Skandal unserer Medien, dass sie über das ungleich schlechtere Los von Abdullah Öcalan schweigen und den mörderischen Krieg gegen die Bevölkerung in Nord-Kurdistan offensichtlich vergessen haben. Wo die Medien schweigen, vermag vielleicht die Initiative einiger mutiger Frauen und Männer, die seit einiger Zeit durch Städte und Ortschaften in Europa reisen, das Vergessen zu durchbrechen. Aber nicht nur das, es gilt auch immer wieder Irrtümer und falsche Vorstellungen aufzudecken und zu korrigieren, die sich hinter dem Vergessen Platz gemacht haben und nun das Gedächtnis besetzt halten.

Ich erinnere mich noch genau an mein erstes Treffen mit Abdullah Öcalan im Mai 1996 in der Nähe von Damaskus. Er hatte uns eingeladen in sein Haus und seinen Garten, in dem er in einem Winkel weiße Tauben hielt. Wir machten Fotos: Apo mit Friedenstaube. Die Gespräche dauerten sieben Stunden, in denen uns der Gastgeber ausführlich über seine Vision eines künftigen Frieden in einem föderalisierten Mittleren Osten ohne die alten Kolonialgrenzen informierte. Wir hatten viele Fragen aber eine bewegte uns besonders: Ist die PKK für ein selbständiges Kurdistan, also Separatismus? Die Antwort war eindeutig: „Nein, wir wollen keine Separation, denn allein wäre Kurdistan wirtschaftlich nicht lebensfähig. Wir wollen im Verband des Türkischen Staates bleiben, als ein Teil der Türkei, so wie Bayern in Deutschland, die Flamen in Belgien, die verschiedenen Kantone in der Schweiz, die Südtiroler in Italien und die verschiedenen Staaten in den USA. Alle haben ihre kulturelle Freiheit und Gleichberechtigung, ohne politische und soziale Diskriminierung. Das wollen wir auch: Gleichberechtigung und Freiheit innerhalb einer demokratischen föderativen Türkei. In der Türkei ist man jedoch weiter zurück als im Mittelalter, zentralistisch, antidemokratisch. Eine föderative demokratische Staatsform mit kulturell autonomen Regionen wäre ein Beispiel auch für andere Länder mit ihren Minderheitskonflikten. Das würde für keinen Staat Nachteile, sondern nur Vorteile und Stabilität bringen.“

Er war auch skeptisch gegenüber einem Kurdenstaat in Nordirak: „Barsani und Talabani sind feudalistisch und antidemokratisch. Das Anstreben eines kurdischen Nationalstaates würde Kriege über Jahrhunderte bedeuten.“ Er bestritt sogar, dass die PKK je einen Nationalstaat gefordert habe: „Die PKK war stets für kulturelle Autonomie, soziale, berufliche und politische Gleichberechtigung innerhalb der Türkei. Wir möchten Föderalismus wie in Deutschland oder den USA, keine Teilung.“

Das war im Jahr 1996 und öffentlich bekannt. Im Dezember 1995 hatte die PKK einen einseitigen Waffenstillstand ausgerufen. Doch Medien und Politik in der Türkei wie in Deutschland hielten hartnäckig an der These von Sezession und Separation fest und tun das zum Teil auch heute noch. Die politische Absicht ist klar. In der Türkei werden heute Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die sich für Selbstverwaltung ihrer Kommunen aussprechen, wegen Sezession angeklagt und verurteilt. Und in Deutschland werden kurdische Bürger, die Demonstrationen oder Veranstaltungen anmelden, dafür Räume mieten oder auf andere legale Weise die Interessen der Kurdinnen und Kurden vertreten und damit nichts anderes als ihre demokratischen Rechte in diesem Lande wahrnehmen, wegen Unterstützung einer terroristischen oder kriminellen Vereinigung nach § 129 b Strafgesetzbuch zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Dieser Paragraph wurde seinerzeit in das Strafgesetz eingefügt, um Mitglieder oder Sympathisanten der „Rote Armee Fraktion“ (RAF) zu kriminalisieren. Die Bundesregierung, ohne deren Ermächtigung derartige Prozesse gar nicht stattfinden könnten, folgt damit blind der Forderung der türkischen Regierung, obwohl diese Personen weder eine Gefahr für die Innere Sicherheit noch den Rechtsstaat der Bundesrepublik darstellen und die Verfolgung ihrer Bürger nicht zu den Bündnisverpflichtungen der NATO gehören. Die Türkei ist aber trotz aller Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen an ihrer eigenen Bevölkerung ein offenbar unverzichtbarer NATO-Partner. Polizei und Justiz akzeptieren Ankaras Terrorbegriff, mit dem sie die PKK zur Verfolgung freigeben, obwohl sie bei genauer Prüfung eher die türkische Regierung als terroristische Vereinigung erkennen müssten.

Der „Verein für Demokratie und Internationales Recht“ MAF-DAD hat im Juni 2016 Strafanzeige gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan und mehrere Minister, Generäle und Polizisten wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in ihrem Krieg gegen die kurdische Bevölkerung seit August 2015 bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe eingereicht. Zahlreiche Persönlichkeiten haben sich der Anzeige angeschlossen. Die Zeugen und Beweise sind so eindeutig, dass sie für eine Anklage ausreichen. Warten wir, ob die neue Regierung ihre Maßstäbe von Recht und Gesetz auch an ihren Bündnispartner Erdogan anlegen wird.

Alles ist Politik, und Recht und Gesetz nur ihre Instrumente. Stellen wir uns vor, Abdullah Öcalan käme frei und Recep Tayip Erdogan vor Gericht. Eine Utopie? Erinnern wir uns an den Kampf für Nelson Mandela und wir müssen erkennen, dass es sich lohnt, für die Utopie zu kämpfen.