Türkei droht mit neuer Invasion in Nordostsyrien
Die niederländische Journalistin Fréderike Geerdink beschreibt in einem Beitrag bei Medya News, warum der türkische Staat die bevorstehenden Gemeindewahlen in Nordostsyrien als Gefahr auffasst und mit einer weiteren Invasion in selbstverwalteten Region droht:
„Im Zusammenhang mit den geplanten Wahlen in den autonom regierten Regionen in Nord- und Ostsyrien noch in diesem Monat sind interessante Entwicklungen zu beobachten: Die Türkei betrachtet sie als Bedrohung ihrer Sicherheit und heizt den Druck an, um sie zum Scheitern zu bringen. Gewalt, Lügen, Bestechung, Diplomatie - Erdoğan nutzt alles, was ihm zur Verfügung steht, um die Abstimmung zu delegitimieren. Kurden und ihre demokratische Meinungsäußerung, die Türkei kann einfach keinen Weg finden, damit umzugehen.“
Gemeindewahlen am 11. Juni
Die Demokratische Selbstverwaltung in der Region Nord- und Ostsyrien (DAANES) hat im Vorfeld der Gemeindewahlen am 11. Juni ein Gesetz erlassen, das vom Rojava Information Center in englischer Sprache veröffentlicht wurde. Geerdink verweist in ihrem Artikel auf ein Interview, in dem erklärt wird, wie das Ganze funktioniert: Es gibt zwei große Bündnisse (eines mit 22 Parteien, eines mit sechs Parteien) und drei Parteien, die unabhängig voneinander antreten. Es gibt Kandidat:innen für sieben Kantone und fast 200 Gemeinden. In mehreren Gebieten kann nicht gewählt werden, weil die Türkei sie besetzt hält, darunter Girê Spî (Tall Abyad), Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Efrîn.
Demokratische Strukturen
In dem Interview werden die Ziele der Wahlen erläutert. Eines der Ziele ist es, die Legitimität der dezentralen demokratischen Strukturen zu festigen und das System erneut als Lösung für den Krieg und die Assad-Diktatur in Syrien zu präsentieren. „In gewisser Weise ist das eine Bedrohung für die Türkei. Allerdings nicht so, wie die Türkei sie wahrnimmt. Die Türkei - nicht nur Erdoğan, sondern Parteien des gesamten politischen Spektrums, mit Ausnahme natürlich der DEM-Partei - stellt dies gerne als ,Separatismus' dar. Das suggeriert fälschlicherweise, dass sich die autonomen Regionen von Syrien abspalten wollen, was auch die Einheit der Türkei in ihren Grundfesten erschüttern würde, was wiederum in ihrer ultranationalistischen Ideologie mit Terrorismus gleichzusetzen ist. Das Terrorismus-Narrativ rechtfertigt dann in ihren Augen die erneute Anwendung von Gewalt gegen die AANES“, kommentiert Geerdink und schreibt weiter:
„Die wirkliche Bedrohung besteht darin, dass die Basisdemokratie, die die AANES seit 2012 aufgebaut hat, ohne Syrien auflösen zu wollen, die Bestrebungen der Kurd:innen und anderer Gruppen in der Türkei nach einem tatsächlichen Mitspracherecht in ihren täglichen Angelegenheiten und die Dezentralisierung der stark zentralisierten Regierungsstruktur der Türkei auslösen würde. Und ja, dies erschüttert das Fundament, auf dem die Türkei aufgebaut ist, in seinen Grundfesten. Allerdings nicht auf gewaltsame Art und Weise, wie es die Türkei fälschlicherweise darstellt, sondern auf demokratische Art und Weise.“
Falsche Propaganda
Geerdink schreibt in ihrem Artikel, dass die Türkei neben Invasionsdrohungen die Propaganda betreibt, dass die Wahlen nicht demokratisch sind. Als Beispiel nennt sie einen Beitrag des von der PDK in der Region Kurdistan im Irak geleiteten Medienkanals Rudaw, in dem ohne Beweise Anschuldigungen erhoben werden, dass Angehörige der Sicherheitskräfte gezwungen werden sollen, für die PYD zu stimmen, und dass die Bürgerinnen und Bürger ebenfalls bedroht werden:
„Die Trumpfkarte in dem Artikel ist ein US-Sprecher, der sagt, dass die AANES ,keine Bedingungen für freie und faire Wahlen' hat, wie in der Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrats beschrieben. Ich habe diese Resolution für Sie nachgeschlagen, und der Mann hat Recht: In dieser Resolution geht es um Wahlen in ganz Syrien, nachdem sich Assad und die Opposition auf eine neue Verfassung geeinigt haben - was in dem Artikel nicht erwähnt wird und deshalb ist es schlechter Journalismus. Die Resolution 2254 stammt aus dem Jahr 2015 und es gibt keinerlei Fortschritte bei ihrer Umsetzung. Dann den einzigen Akteur, der tatsächlich in die Zukunft Syriens investiert, der Untergrabung der Demokratie zu beschuldigen, ist schlichtweg absurd.“
Bezahlte Proteste
„Was tut die Türkei in der Zwischenzeit, außer mit Gewalt zu drohen, falsche Propaganda zu verbreiten und US-Sprecher dafür zu missbrauchen? Sie bezahlt Menschen in den ehemals autonom regierten Regionen Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî sowie in anderen von der Türkei besetzten Gebieten, um gegen die Wahlen zu demonstrieren. Das ist ganz typisch für Erdoğans Regierung. Während der AKP-Ära, insbesondere nach den vielversprechenden ersten Jahren, wurden Beamte (lokale Verwaltungsangestellte, Lehrkräfte, Polizisten usw.) mit Bussen zu AKP-Kundgebungen transportiert, insbesondere in den kurdischen Gebieten. Wer nicht in den Bus stieg, dem drohte der Verlust seines Arbeitsplatzes. Erdoğan weiß genau, was er anderen vorwerfen kann, weil er es aus seinem eigenen Spielbuch auswählen kann.“
Gesellschaftsvertrag
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich glaube nicht, dass die autonom regierten Regionen in Nord- und Ostsyrien eine Art revolutionäres Paradies sind, das perfekt funktioniert. Natürlich sind sie das nicht. Und niemand, der bei klarem Verstand ist, würde das behaupten. Die AANES ist sich dessen bewusst und versucht, mit den Wahlen ihre demokratische Legitimität zu stärken, so wie sie es kürzlich mit ihrem neuen Gesellschaftsvertrag getan hat. Ich denke, das sollte man begrüßen und unterstützen. Möge das Volk von Syrien gewinnen!“, so Fréderike Geerdink.