Duran Kalkan hat sich als Mitglied des Exekutivrats der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) im Interview zum Kampf der kurdischen Guerilla, der Rolle Abdullah Öcalans und der Kriegssituation in den Bergen geäußert.
Vor 39 Jahren, am 15. August 1984, hat der bewaffnete Kampf der kurdischen Freiheitsbewegung begonnen. Wie hat sich der bewaffnete Kampf seitdem entwickelt? Was wäre passiert, wenn der Durchbruch vom 15. August nicht stattgefunden hätte?
Bevor ich Ihre Frage beantworte, möchte ich den seit 39 Jahren von Rêber Apo [Abdullah Öcalan] und der PKK angeführten Widerstand des kurdischen Volkes würdigen. Sie versetzten dem faschistischen Völkermordregime auf der Grundlage des Guerillakriegs schwere Schläge. Aber dass dieser Krieg gegen einen einzelnen Staat geführt wird, sollte uns nicht zu dem Schluss verleiten, dass er nur gegen den faschistischen Kolonialismus der Republik Türkei gerichtet ist. Die Kurdinnen und Kurden leisten Widerstand gegen die gesamte NATO. Es ist die NATO, die den Krieg seit 1985 führt. Letzten Monat haben sie eine Kommandozentrale eingerichtet, um den Krieg gegen die PKK und gegen die Kurden zu koordinieren. Eigentlich existiert sie de facto schon seit mehr als 38 Jahren, aber jetzt haben sie es öffentlich gemacht. Das kurdische Volk leistet Widerstand gegen faschistische, völkermörderische, kolonialistische Mentalität und Politik. Dieser Widerstand verdient Anerkennung. Ich gedenke in der Person von Egîd und Zîlan voller Respekt aller Gefallener, die infolge des Durchbruchs vom 15. August ihr Leben gegeben haben.
50.000 Gefallene im kurdischen Befreiungskampf
Die Zahl der Gefallenen unserer Bewegung hat mittlerweile 50.000 erreicht. Dieser 39-jährige Kampf geschah nicht von alleine. Es verlangte einen hohen Preis und das kurdische Volk zahlte ihn. Er erforderte Mut und Opferbereitschaft, die die gesamte kurdische Gesellschaft, insbesondere die kurdischen Frauen und Jugendlichen, an den Tag legten. Sie leisteten heldenhaften Widerstand gegen den faschistischen Völkermordangriff, der von allen möglichen ausländischen Mächten sowie kurdischen Kollaborateuren und Verrätern unterstützt wurde. Das kurdische Volk hörte auf Rêber Apo und verstand es, es vertraute, hoffte und unterstützte die Guerilla. Tatsächlich war der 15. August ein Meilenstein in der kurdischen Geschichte. Der große Gefängniswiderstand von 1982 verwandelte seine Entschlossenheit in Organisation und Aktion, aber die praktischen Erfolge und Entwicklungen kamen hauptsächlich durch den 15. August und den Guerillakrieg. Der Durchbruch vom 15. August und der daraus resultierende Guerillawiderstand liegen allen libertären demokratischen Entwicklungen in Kurdistan in diesen 39 Jahren zugrunde.
Der bewaffnete Kampf betrifft nicht nur Kurdistan
Was wäre passiert, wenn die Offensive vom 15. August 1984 nicht stattgefunden hätte? Was wäre in Kurdistan passiert, was wäre in der Türkei passiert, was wäre in der Welt passiert? Diese Welt stand dem Faschismus gegenüber, weil die antikurdische Politik in Ankara akzeptiert wurde. Nun ist nicht klar, was ohne solch einen heldenhaften Kampf gegen dieses faschistische Regime in Europa passiert wäre, in welchem Ausmaß der Rassismus verschwunden wäre, was der Faschismus getan hätte und wie die Welt heute aussehen würde. Es sollte nicht nur im Hinblick auf die Kurden gesehen werden. Es ist bekannt, dass die Türkei ein Land der Lügen ist. „Jeder ist ein Türke. Jeder innerhalb der Grenzen dieses Landes, jeder, der türkischer Staatsbürger ist, ist ein Türke. Es gibt keine Kurden. Kurden sind ein türkischer Stamm, das Wort ,Kurd' ist ein Laut, der beim Gehen im Schnee entsteht, und diejenigen, die diesen Laut von sich geben, werden Kurden genannt.“ Derartig erfundene und sehr verabscheuungswürdige Aussagen wurden verbreitet. Sie propagierten, sie schrieben Dutzende, Hunderte von Büchern. Viele Menschen mit ergrautem Haar, die sich selbst als Professoren oder Künstler bezeichnen, haben das getan. Der Bevölkerung der Türkei wurde eine große Lüge aufgezwungen.
Widerstand gegen Völkermord
Der Durchbruch vom 15. August und Rêber Apos Gedanken bildeten eine aufschlussreiche Antwort gegen diese Taktik. Es ist notwendig, die Guerilla auf diese Weise zu verstehen und sich von Worten wie „Wir sind gegen alle Arten von Krieg“ zu distanzieren. Was meinst du damit, dass du gegen alle Arten von Krieg bist? Es gibt kolonialistische Kriege, völkermörderische Kriege, ungerechte Kriege und es gibt auch Widerstand dagegen. Schauen Sie sich dann den Angriff des IS auf Şengal und den Kampf dagegen an. Es war ein Widerstandskrieg gegen einen Völkermord und es war ein Guerillakrieg. Möglicherweise sind Sie gegen den Guerillakampf. Aber stellen Sie sich vor, was ohne den Widerstand der Guerilla passiert wäre. Wäre dann noch etwas Menschlichkeit übrig geblieben? Tatsächlich war Kurdistan eine Hochburg reaktionären Handelns und Denkens. Vor vier Jahrzehnten griff das faschistische Militärregime nach dem Putsch vom 12. September [1980] überall an und sagte: „Wir werden sie [die kurdische Freiheitsbewegung] zerstören, damit sie nie wieder auferstehen kann.“ Sie sagten: „Wir haben sie bereits zerstört, aber einige von ihnen erheben sich aus dem Grab, lasst uns sie mit unseren Stiefeln zertreten, bevor sie überhaupt ihre Köpfe herausziehen.“ Aus einer solch reaktionären Bastion ist mittlerweile ein Land der Freiheit geworden. Es ist ein Ort der Freiheit, ein Ort der Demokratie geworden. Kurdistan ist die Hochburg des weltweiten Kampfes für Freiheit und Demokratie.
Der Paradigmenwechsel spricht mittlerweile alle an
Welche Rolle spielt Abdullah Öcalan in diesem Kampf und welche Rolle spielt er auf internationaler Ebene?
Alle möchten hierher kommen, weil sie von diesem Kampf des Volkes, der Frauen und der Jugend inspiriert sind. Die Führung von Rêber Apo hat diesen großen Kampf ins Leben gerufen. Es ist eine Führung, die allen Unterdrückten den Weg zur Befreiung weist. Indem er das Paradigma des Freiheitskampfes änderte, gab er Antworten auf Fragen wie „Warum führte der Kampf der Unterdrückten nicht zum Sieg? Warum dauerten ihre siegreichen Kämpfe nicht lange?“ Er führte diese Probleme darauf zurück, dass die Unterdrückten ihre Kämpfe mit falschen Mitteln führten. Auf diese Weise hat Rêber Apo viele falsche Vorstellungen über die Ursachen solcher Misserfolge geändert. Der Paradigmenwechsel spricht mittlerweile alle an. In der Philosophie, dem Paradigma und dem Denken von Rêber Apo finden alle, was sie suchen. Deshalb wollen sie seine Stimme hören und diskutieren seine Gedanken auf der ganzen Welt.
Der türkische Staat und die faschistischen Völkermordtäter hofften fälschlicherweise, dass sie durch die Schließung der Mauern von Imrali den Einfluss von Rêber Apo gestoppt hätten. Rêber Apo wird in Kolumbien diskutiert. Er ist in Lateinamerika, Afrika, Asien, Europa, überall. Er hat dies erreicht und die Mauern von Imrali niedergerissen. Das geschah mit der Kraft des 15. August, mit der Stärke des Kampfes. Die kurdische Gesellschaft, die Jugend, die Frauen und die türkisch-kurdischen Werktätigen sind zu einer großen Kraft des Bewusstseins, der Organisation und des Willens geworden. So sehr, dass niemand mehr die Kurdinnen und Kurden wie früher betrachten kann. Alle sagen jetzt, dass die Kurden nicht mehr das sind, was sie einmal waren. Wie kam es zu dieser Veränderung? Wer hat es herbeigeführt? Was war das Alte? Was ist das Neue? Viele sehen nicht, was sich geändert hat. Sie analysieren die Veränderungen nicht. Sie wollen die Veränderungen nicht sehen, sie wollen nicht die Gewinne sehen. Andererseits erheben sie Anspruch auf diese Gewinne und Erfolge. Das ist einfach Diebstahl. Das Volk setzt seinen Kampf im Geiste des 15. August fort und wird diesem Diebstahl nicht nachgeben.
Die Guerilla hat ihre Unbesiegbarkeit bewiesen
Wie ist die Kriegssituation derzeit? In welcher Verfassung befindet sich die kurdische Guerilla im bald 40. Jahr ihres Bestehens?
Unsere Hauptquartierkommandantur hat kürzlich eine Bilanz für Juli veröffentlicht. Eigentlich ist es für Menschen, die Demokratie und Freiheit anstreben, nicht sehr angemessen, mit solchen Zahlen umzugehen und zu sagen, dass sie im Krieg so viele Dinge getan haben, aber man muss diejenigen zwingen, die es nicht verstehen wollen. Die Guerilla führte innerhalb eines Monats 130 Aktionen durch, das sind fast fünf Angriffe täglich. Dabei wurden 70 bis 80 Besatzer getötet. Selbst wenn nur zwei Menschen getötet werden, muss man von einem Krieg sprechen. Das lässt sich nicht in Zahlen messen. Gleichzeitig sind in diesem Monat sieben Kämpferinnen und Kämpfer der Guerilla gefallen. Das deutet darauf hin, dass dieser Krieg nicht so einfach ist. Darüber hinaus wurde sechsmal der Einsatz taktischer Atombomben gegen die Guerilla beobachtet. Auch chemische Waffen sowie andere verbotene Waffen wurden mehrfach eingesetzt. Die türkische Armee führte tausende Angriffe mit Flugzeugen, Panzern und Artillerie gegen die widerstehende Guerilla durch.
Wie wir immer sagten, geht es darum, den Kampf auf den Boden zu tragen und ihn dort auszufechten. Das ist es, was man gerade sieht, und dadurch wurde der Krieg zum Stillstand gebracht. Die türkische Armee versucht, einige Orte zu besetzen, aber je mehr Schritte sie unternimmt, desto mehr wird sie getroffen. Die Kommandantur unseres Hauptquartiers hat dazu Erklärungen abgegeben und mehr als dort steht, braucht man eigentlich nicht zu sagen. Aber weil es so viele gibt, die diese Situation nicht sehen wollen, sind wir gezwungen, diese Tatsachen über den Krieg immer wieder zu wiederholen. Die Kämpfer und Kämpferinnen der HPG und YJA Star repräsentieren den Geist des Durchbruchs vom 15. August und seines Sieges und entwickeln ihn weiter. Die Guerilla brachte die Selbstaufopferung auf ein hohes Niveau, indem sie alle Angriffe abwehrte und alle Vernichtungsakte vereitelte. Es gab viele Offensiven des türkischen Staates in Nordkurdistan und Südkurdistan, vielleicht Hunderte, Tausende oder sogar Zehntausende, aber die Guerilla hat diese immer gebrochen und die Unbesiegbarkeit dieses Kampfes bewiesen.
Es ist nicht sehr realistisch, dass diejenigen, die die 200 bis 250 Guerillakämpfer, die mit dem Durchbruch am 15. August begannen, nicht vernichten konnten, sagen, dass sie die Guerilla vernichten werden, die sich nach 39 Jahren so weit entwickelt und über das ganze Land ausgebreitet hat. Der türkische Staat kann mit dieser Aussage nicht überzeugen. Auf dieser Grundlage möchte ich den Widerstand der Guerilla in der gesamten Region würdigen. Ich möchte noch einmal allen Kämpfern und Kämpferinnen der HPG und YJA Star gratulieren. Sie erfüllen die schwierigste Aufgabe und bilden die Grundlage für Freiheit und demokratische Entwicklungen, die die Menschheit betreffen und sich auf der ganzen Welt ausbreiten.
Mit Kraft und Bewusstheit in das 40. Jahr
Die Zahl 40 ist eine bedeutende Zahl in unserer Sozialethik, denn sie bedeutet auch Reifung im menschlichen Leben, Erlangung von Bewusstsein und Stärke. Unsere Partei, das kurdische Volk, unsere Guerillakräfte, unsere Frauen- und Jugendbewegungen gehen mit Kraft und Bewusstheit in das 40. Jahr. Ob dieser Konflikt weitergeht oder nicht, liegt nicht wirklich an uns, sondern hängt eher von der faschistischen, völkermörderischen Regierung von Tayyip Erdoğan und der Volksallianz ab. Sie verstärken die Angriffe. Süleyman Soylu [ehemaliger türkischer Innenminister] ist weg, aber es sind neue Süleyman Soylu aufgetaucht. Sie versuchen, die gleiche Politik, die gleiche Rhetorik fortzusetzen, aber auch der Widerstand dagegen geht weiter, er entwickelt sich und breitet sich aus. Das 40. Jahr wird ein Jahr größerer Kämpfe sein und wir werden möglicherweise auch Zeuge großer Entwicklungen auf militärischer und politischer Ebene sein. Wir sollten in dieser Hinsicht immer hoffnungsvoll sein. Alle sollten sich dem Kampf mit Hoffnung und Überzeugung anschließen. Auf dieser Grundlage möchte ich allen, die für Freiheit und Demokratie kämpfen, noch einmal viel Erfolg wünschen.