In Kurdistan mussten und müssen außergewöhnliche Taten vollbracht werden, um den Befreiungskampf zu beschleunigen und qualitativ neue Phasen zu starten. Nahezu alle außergewöhnlichen Fedai-Aktionen fanden zu jenen Zeiten statt, in denen sich die Gefahr der Normalisierung eines Kriegszustandes anzeigte. Für Revolutionen ist die Akzeptanz des Krieges als Normalzustand das Signal der Überlegenheit des Feindes. Zeynep Kınacı war keine 24 Jahre alt, als sie sich am 30. Juni 1996 auf eigene Initiative bei einem Zapfenstreich der türkischen Armee mitten in Dersim in die Luft sprengte. Mit ihrer Aktion setzte „Zîlan“, wie ihr Nom de Guerre lautete, ein Fanal für die kurdische Freiheitsbewegung, insbesondere die Frauenbewegung.
Erst Frontaktivistin, dann Guerillakämpferin
Zeynep Kınacı kam 1972 im Dorf Mamurek (tr. Elmalı) bei Meletî (Malatya) zur Welt. Sie absolvierte in Istanbul die Berufsfachschule für Gesundheit und arbeitete anschließend zunächst im staatlichen Krankenhaus in Riha (Urfa) als medizinisch-technische Assistentin, bevor sie sich nach Meletî versetzen ließ und an der İnönü Üniversitesi ein Psychologie-Studium aufnahm. Ihr Interesse für Politik begann während ihrer gymnasialen Oberstufe. Hier entwickelte sie Sympathie für die Linke und die kurdische Bewegung und im Laufe ihres Studiums für die PKK.
1994 schloss sich Kınacı zusammen mit ihrem Ehemann Mehmet Ali Atlı der kurdischen Arbeiterpartei an. Etwa ein Jahr war das Paar in der Frontarbeit in Adana tätig. 1995 ging „Zîlan“ nach Dersim zur ARGK-Guerilla – Artêşa Rizgariya Gelê Kurdistan, zu Deutsch: Volksbefreiungsarmee Kurdistan – der Vorgängerorganisation der Volksverteidigungskräfte (HPG). Kurz vor ihrer Aktion hinterließ sie mehrere Briefe, gerichtet an das kurdische Volk, die PKK, an Abdullah Öcalan, die kurdische Frauenbewegung, an die türkische Regierung, die Weltöffentlichkeit und internationale Institutionen. In einem dieser Briefe bringt sie die historische Notwendigkeit ihrer Aktion zum Ausdruck:
„Der Feind führt einen totalen Krieg gegen uns. Unsere Antwort muss der totale Widerstand im Kampf für unsere Freiheit sein.”
Große Veränderungen benötigen manchmal bedeutsame Mittel
Ihre Aktion führte Zeynep Kınacı zu einer Zeit aus, in der der Vernichtungskrieg des türkischen Staates gegen die kurdische Bevölkerung ein unausstehliches Maß annahm. Parallel dazu war der Versuch eines Attentats auf Abdullah Öcalan in seiner Unterkunft in Syrien unternommen worden. In ihren Briefen erklärte sie, dass nur der Widerstandskampf der PKK die Kurdinnen und Kurden vor der vollkommenen Vernichtung bewahrt habe. Eine Gesellschaft, deren Kultur, Identität und Bewusstsein nahezu vollständig assimiliert worden sei, zu einem großartigen Widerstandskampf zu bewegen, benötige großes Verantwortungsgefühl, historisches Bewusstsein, Mut und Entschlossenheit. Mit ihrer Aktion setzte sie einen Wendepunkt in der Vernichtungspolitik des türkischen Staates und dem Widerstandskampf der kurdischen Bevölkerung dagegen. Nach eigenen Angaben wählte sie dieses Mittel im Bewusstsein, dass „große Veränderungen manchmal bedeutsame Mittel benötigen“.
KCK: Zîlans Name steht für die bedingungslose Freiheit
Hier knüpft auch eine Botschaft der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) zum 27. Todestag von Zeynep Kınacı an. „Zîlans Name steht für die bedingungslose Freiheit. Durch ihren Mut und ihre Überzeugung schuf sie eine neue Art des kurdischen Widerstandes. Hevala Zîlan besetzt einen großen Platz in den Herzen vieler Menschen – nicht nur in Kurdistan. Sie ist eine Unsterbliche im universellen Freiheitskampf der Menschheit in der ganzen Welt, im Besonderen jedoch im Frauenbefreiungskampf.“
Es sei äußerst schwierig, die „Realität von Zîlan“ in all ihren Aspekten und ihrer Bedeutung in Worte zu fassen, schreibt die KCK in ihrer Botschaft. „So drückte sie sich nicht mit Worten, sondern mit Taten aus. Sie wurde zur Repräsentantin der wahrhaftigen Wahrheit und des Lebens. In einem ihrer Briefe schrieb sie: ‚Mein Lebenswille ist stark. Mein Wunsch ist ein erfülltes Leben durch eine große Aktion. Der Grund für diese Aktion ist meine Liebe zu den Menschen und zum Leben.‘ Diese Haltung und Tiefe kann nur verstanden und erfasst werden, wenn der Kompass die Linie der Freiheit anzeigt. Zîlan zu begreifen ist nur in der Verbundenheit zu ihrem Weg möglich.“
Der PKK-Begründer und kurdische Vordenker Abdullah Öcalan hatte Zeynep Kınacı als „Oberkommandierende“ und die Guerilla als ihre Armee bezeichnet. „Er betonte immer wieder, wie wichtig es sei, ihre Aktion richtig zu deuten, um Zîlans Person würdig zu sein. In der Phase, die wir gegenwärtig durchlaufen, in der das türkische AKP/MHP-Regime versucht, den totalen Genozid am kurdischen Volk zu vollziehen, in der die kapitalistische Moderne um die Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft kämpft, indem sie die Zerstörung der Natur und der Gesellschaft und den Feminizid verschärft, in einem Prozess, in dem die Völker, die Frauen und die Unterdrückten in Kurdistan, im Mittleren Osten und in der ganzen Welt im Widerstand sind, ist es mehr denn je notwendig, die Realität von Zîlan richtig zu verstehen und sich darin zu vertiefen.“
Kampf in Verbundenheit zu Zîlan
Denn Zîlan sei „Ausdruck für die totale Hingabe an die Freiheit und den Erfolg auch unter den schwierigsten Bedingungen“, so die KCK. „In dieser Hinsicht müssen Kämpferinnen und Kämpfer, Kurdinnen und Kurden, Frauen und alle anderen auf der ganzen Welt, die auf der Suche und im Kampf für die Freiheit sind, die Realität von Zîlan richtig deuten und verinnerlichen. Das ist es, was die Freiheitsguerilla Kurdistans tut. Mit der Opferbereitschaft von Zîlan leistet sie Widerstand gegen einen faschistischen Feind, kämpft für die Freiheit und die Verteidigung Kurdistans. Von Zap, Avaşîn, Metîna über Xakurke, Botan, Amed und Dersim bis nach Serhed: Die Guerilla widersetzt sich, lebt und kämpft – in Verbundenheit zu Zîlan.“