Von Zîlan bis zum heutigen Kampf der YJA Star

Wie wollen wir leben? Als Frauen, als Menschen, als Nation, wie soll unser Leben aussehen? Wir können nur mit hoher Opferbereitschaft leben, weil uns der Feind keine andere Chance lässt. Wir müssen die feindlichen Festungen in uns selbst zerstören.

Zeynep Kınacı war 24 Jahre alt, als sie sich am 30. Juni 1996 auf eigene Initiative bei einem Zapfenstreich der türkischen Armee im Zentrum der nordkurdischen Provinzhauptstadt Dersim in die Luft sprengte. Mit ihrer Aktion setzte die gelernte Krankenschwester, deren Nom de Guerre „Zîlan“ lautete, ein Fanal für die kurdische Freiheitsbewegung, insbesondere die Frauenbewegung.

„Der Feind führt einen totalen Krieg gegen uns. Unsere Antwort muss der totale Widerstand im Kampf für unsere Freiheit sein.” Dieser Satz stand in einem der Briefe, die Zîlan hinterließ, gerichtet an das kurdische Volk, die PKK, an Abdullah Öcalan, die kurdische Frauenbewegung, an die türkische Regierung, die Weltöffentlichkeit und internationale Institutionen. Ihre Aktion führte sie zu einer Zeit aus, in der der Vernichtungskrieg des türkischen Staates gegen die kurdische Bevölkerung ein unausstehliches Maß annahm. Parallel dazu war ein gescheitertes Attentat auf Abdullah Öcalan in Syrien unternommen worden. Öcalan war von Überläufern wie beispielsweise Şemdin Sakık als Angriffsziel ausgewiesen worden, indem sie dem türkischen Staat suggerierten, dass die kurdische Bewegung nur durch seine Liquidierung zerschlagen werden könne.

Zu der Aktion von Zeynep Kınacı und der führenden Rolle, die die Frauenguerilla YJA Star heute im Widerstand gegen die türkische Invasion in Südkurdistan einnimmt, hat sich Xalide Engizek als Mitglied des Zentralkomitees der PKK im Radiosender Dengê Welat geäußert.

Auf die Frage nach der Bedeutung der Aktion von Zeynep Kınacı erklärte Xalide Engizek, dass damit eine neue Linie etabliert wurde, die Linie der Fedai, der opferbereiten Kämpferinnen und Kämpfer, die auch den Tod in Kauf nehmen, um ihr Ziel zu erreichen. Diese Opferbereitschaft sei zur ideologischen Grundlage der PKK und der Frauenpartei PAJK geworden:

„Hevala Zîlans Aktion hat hinsichtlich der Zeit und des Orts eine Veränderung aufgezeigt. Unsere Freundinnen und Freunde hatten bereits zuvor Fedai-Aktionen durchgeführt, vor allem im Gefängnis, aber Hevala Zîlans Aktion war in ihrem Wesen und ihrer Art und Weise anders. Sie legte selbst das Ziel fest, machte die notwendigen Erkundungen und löschte als Einzelperson eine ganze Militäreinheit aus. An dieser Stelle geht es weniger um die Anzahl der Verluste als vielmehr um die taktische Bedeutung der Aktion. Man sagt ja, dass eine Person soviel wert sein kann wie eine ganze Armee. Was Zîlan getan hat, hätte nur eine Armee ausführen können. Damals gab es die Liquidierungsversuche von Şemo [Şemdin Sakık]. Şemo sagte, dass der bewaffnete Kampf in Kurdistan nicht möglich ist. Im Guerillakampf fanden zu dieser Zeit taktische Wiederholungen statt. Zeitgleich wurde das Komplott gegen Rêber Apo [Abdullah Öcalan] vorbereitet. Er sollte physisch eliminiert werden und es kam zu einem Anschlag in Damaskus. Und dagegen richtete sich Zîlans Aktion. Sie hat die Entwicklungen richtig begriffen, hat Rêber Apo verstanden und die bestehenden Gefahren gesehen. Auf dieser Grundlage hat sie ihr Angriffsziel ausgesucht und ist wie eine Kommandantin mit einer eigenen Armee gegen den Feind vorgegangen.

Wie wollen wir leben? Als Frauen, als Menschen, als Nation, wie soll unser Leben aussehen? Wir können nur mit einem Geist der Opferbereitschaft leben, weil uns der Feind keine andere Chance im Leben lässt. Wenn wir leben wollen, müssen wir wie Zîlan leben. Wir müssen opferbereit leben. Für uns ist ein Leben nur möglich, wenn wir alle feindlichen Festungen in uns selbst, in unserer Wahrnehmung zerstören.

Aus diesem Grund ist die Lebenslinie von Hevala Zîlan zu unserer ideologischen Linie geworden. Sie steht für unser Leben. Die Gegenwart ist in diesem Geiste aufgebaut worden. Die von Zîlan vorgelegte Taktik wird heute im Zap, in Avaşîn, Rojava, Şengal und ganz Kurdistan angewendet. Wenn wir als Kurdinnen das kurdische Volk, die Region und uns selbst von der Unterdrückung des patriarchalen Nationalstaats in der Kapitalistischen Moderne befreien wollen, müssen wir die Linie von Hevala Zîlan leben, wie es heute bei den Kämpfen in den Medya-Verteidigungsgebieten geschieht.

Im Zap wird ein epochaler Kampf geführt. Der Tunnelkampf hat den türkischen Staat schockiert. Bereits 2021 wollte er die Medya-Verteidigungsgebiete und insbesondere die Region Behdînan einnehmen. Diese Gegend stellt den Gipfel der Berge Kurdistans dar, das Zagros-Gebirge. Der Feind geht davon aus, dass er alles kontrollieren kann, wenn er die kurdischen Berge beherrscht. 2021 kam er in den Süden und behauptete, den Norden bereits liquidiert zu haben. Der in den Tunnelanlagen geleistete Widerstand war jedoch ein schwerer Schlag für die türkische Armee. Wenn die Guerilla als professionelle Verteidigungskraft Kurdistans geschlagen worden wäre, hätte ganz Kurdistan besetzt werden können, die Befreiungsbewegung wäre überrollt worden und der Völkermord an den Kurdinnen und Kurden hätte vollendet werden können. Deshalb hat der türkische Staat alle Ressourcen mobilisiert. Er will diesen Krieg immer noch gewinnen.

2021 ist der türkische Staat jedoch nicht vorangekommen. Am 17. April 2022 hat er nach einer flächendeckenden dreitägigen Bombardierung erneut mit Luftlandetruppen angegriffen. Das Ziel dieser Operation war eine schnelle Eroberung strategisch wichtiger Stellen in den Regionen Zap, Metîna und Avaşîn. Dafür benutzt der türkische Staat die Kollaborateure der PDK. Die PDK hat alle Wege blockiert, um den Bewegungsspielraum der Guerilla einzuschränken. Sie stellt Logistik zur Verfügung, transportiert Verletzte, gibt den türkischen Soldaten Kleidung der Peschmerga und bringt sie ins Kriegsgebiet.

Der Krieg dauert seit zwei Monaten an und die Guerilla leistet Widerstand. Darüber hinaus verhindert sie den Einzug der Invasionstruppen in ihre Gebiete und kämpft mit moderner Taktik und Technik in den Tunneln und in kleinen Einheiten im Gelände. Sie verteidigt die Region und greift den Feind an.

Die YJA Star organisiert sich anhand der Regeln für ein freies Leben und fordert im Zap und in Avaşîn Rechenschaft vom staatlichen Männersystem. Sie zieht das patriarchale Herrschaftssystem für die Vergewaltigungen von Frauen in allen Teilen Kurdistans zur Rechenschaft, für die Kerker, die Folter und die Femizide. Damit stellt sie die Garantie für den Aufbau eines demokratischen, freien und gleichen Lebens dar. Die Performance der YJA Star in diesem Krieg ist äußerst erfolgreich. Sie zeichnet sich durch einen scharfen Verstand in der Kriegsführung, durch Mut und durch taktische und technische Professionalität aus. Das macht dem Feind Angst und deshalb greift er massiv an. Weil er die YJA Star nicht besiegen kann, lässt er seine Wut an den Frauen in der Gesellschaft aus.

Es geht nicht darum, ein paar Soldaten zu töten. Die YJA Star ist äußerst flexibel in ihrer Taktik. Sie kämpft nicht nur physisch in diesem Krieg. Mit ihrem Kampf erhöht sie den Maßstab für Freiheit."