Bekanntermaßen begann am 15. August 1984 die militärische Offensive der PKK. Nach Jahren des Aufbaus und vieler Diskussionen über die „Lösung der kurdischen Frage“ war die Entscheidung gefallen, sich zu einer auch mit Waffen kämpfenden Organisation zu entwickeln. Es war die Antwort auf staatliche Kolonialisierung, Verleugnung kurdischer Identität, Zwang zur Assimilierung und grausamer Folterpraxis in den Gefängnissen nach dem Militärputsch 1980 unter Kenan Evren. In zwei Kleinstädten in Nordkurdistan fiel dann der „erste Schuss“.
Die Notwendigkeit dafür formulierte Abdullah Öcalan 25 Jahre später und mittlerweile als türkische Geisel inhaftiert in seiner „Roadmap für die Demokratisierung der Türkei und die Lösung der kurdischen Frage“: „Die Offensive des 15. August 1984 anzustreben war die einzige Alternative zur Politik der Verleugnung und Vernichtung.“
Im gleichen Text, der adressiert war an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), begründete Öcalan diesen Schritt als Punkt 10 des prinzipiellen Rahmens für den Aufbau einer demokratischen Nation: „So wie es kein Lebewesen gibt, das keine Selbstverteidigung besitzt, so können auch demokratische Gesellschaften, die komplexesten Gebilde der Natur, ohne Selbstverteidigung weder entstehen noch weiter existieren.“¹
Seitdem ist viel Zeit vergangen. Aus der Handvoll Apoisten um Mahsum Korkmaz (Egîd), die auch mit der Waffe in der Hand zum Kampf bereit war, wurde eine professionelle Guerilla. Sie leistet bis heute Widerstand gegen die Angriffe der zweitstärksten Armee der NATO. Als Hêzên Parastina Gel (Volksverteidigungskräfte) und Yekîtiyên Jinên Azad STAR (Verbände freier Frauen) operiert sie in allen Teilen Kurdistans, schützt und verteidigt die befreiten Medya-Verteidigungsgebiete und ist überall dort präsent, wo Kurd:innen Hilfe brauchen. So waren auch Kämpfer:innen der HPG und YJA Star die ersten in Şengal, um Tausende von Ezid:innen vor den Schergen des sogenannten Islamischen Staats zu retten.
Dabei ist der Kampf der PKK kein Selbstzweck. Es geht immer um Verteidigung gegen Angriffe der Besatzer und ihrer Helfershelfer. Wie ein roter Faden zieht sich durch die Geschichte der Guerilla die Priorität des Schutzes der sich selbst frei und demokratisch organisierenden Gesellschaft und ihres natürlichen Lebensraums. Niemand erhält dafür einen Sold. Wer in den Bergen lebt und kämpft, tut dies freiwillig und unter Einsatz des eigenen Lebens.
Die Geschichte erzählt von Erfolgen, Opferbereitschaft und Heldentaten … und ja auch von Niederlagen. Die lange Reihe von Gefallenen brennt wie eine offene Wunde. Doch auf jeden Şehîd folgen junge Frauen und Männer, die den Weg in die Berge finden. Meist haben sie oder ihre Familien einen langen Leidensweg voller Repression hinter sich. Angefeindet, gejagt und gedemütigt, weil sie Kurd:innen sind, ziehen sie das freie Leben in den Bergen einem Dasein ohne Würde und Perspektive vor. Wer kann es ihnen verdenken? Was bleibt anders übrig, wenn es um nichts weniger geht als um die Verteidigung des Menschseins?
Und dann kommt der deutsche Verfassungsschutz und erdreistet sich zu schreiben: „Mit Propagandavideos über die PKK-Guerillaeinheiten sollen neue Rekrutinnen und Rekruten für den bewaffneten Kampf in den kurdischen Siedlungsgebieten gewonnen werden.“² Auf diese „Erkenntnis“ wird dann in den Gerichtssälen zurückgegriffen. Damit versucht die deutsche Justiz, vermeintliche PKK-Aktivist:innen mit §§ 129a/b Verfahren als „gewaltbereite Terroristen“ zu diffamieren, die andere in den Krieg schicken. Es werden Videos von Kampfeinsätzen gezeigt, um die Affinität der PKK zu militärischem Kampf zu beweisen, um damit Argumente für die nachfolgenden Verurteilungen zu sammeln.
In der deutschen Justiz und Politik wird die Freiheitsguerilla als bloßer militärischer Gegner eines befreundeten NATO-Partners gesehen. Dein Feind ist mein Feind. Eifrige Bürokraten listen akribisch alle Aktionen der HPG und YJA Star auf und addieren die Verletzten und Getöteten. Am Ende folgt dann das Resümee: Die PKK ist eine Organisation, die mit Waffengewalt … usw.
Das Recht auf Selbstverteidigung wird nur denen zugestanden, die den Interessen der westlichen Hegemonie dienen, wie das Beispiel der Ukraine zeigt. Und so bleiben die vorangegangenen Kriegsverbrechen der türkischen Armee unerwähnt. Kein Wort über die Angriffe mit Chemiewaffen, das Flächenbombardement, die Hinrichtungen von Zivilisten mit Killerdrohnen, die Entführungen und Vergewaltigungen, das Niederbrennen der Wälder …
Man macht sich das türkische Narrativ, die Armee führe einen „Kampf gegen den Terrorismus“ zu eigen und verwechselt dabei Ursache und Wirkung. Dies ist bequem, hat man damit doch eine der wesentlichen Begründungen für die Verfolgung der PKK in Europa zur Hand.
Außerhalb der Vorstellungskraft der Richter und Staatsanwälte ist dabei, dass der Kampf der Freiheitsguerilla von einem Paradigma geleitet ist, das viel mächtiger ist als jede Waffe. Die stärkste Waffe der Guerilla ist der Geschmack eines freien, selbstbestimmten und genossenschaftlichen Lebens und die Entschlossenheit, dieses zu schützen. Es ist die Hoffnung auf eine Alternative zu einem bitteren Leben ohne Identität und Würde.
Dazu braucht es keine „Propagandavideos“ über militärische Einsätze, die lediglich zu Dokumentationszwecken veröffentlicht werden, um die Lügen der Gegenseite zu entlarven. Es braucht auch keine „Rekrutierung“. Der türkische Staat und die Aussicht auf ein Dasein in der Mühle eines traurigen Alltags in der kapitalistischen Moderne besorgen die „Rekrutierung“ ganz ohne Zutun der PKK.
Wer in den Bergen kämpft, hat eine lange Ausbildung hinter sich, in der das Zusammenschrauben von Gewehren den geringsten Teil ausmacht. Es geht um grundlegende Fragen: Wo sind meine Wurzeln? Wie führe ich ein freies Leben, in dem sich Männer und Frauen respektvoll und gleichberechtigt begegnen? Wie lebe ich im Gleichklang der Natur? Was bedeutet Genossenschaftlichkeit und Verantwortung? Im Mittelpunkt steht die Entwicklung einer moralisch gefestigten Persönlichkeit.
Natürlich wissen Justiz und Politik davon nichts. Wie sollten sie, ist doch die Lektüre von Öcalans Schriften nicht verbindlich vorgeschrieben, wenn es um die Be- und Verurteilung von PKK-Aktivisten geht? Es ist einfacher, die Agenda der PKK auf den militärischen Widerstand zu beschränken.
Geflissentlich übersehen wird die tiefe Verankerung der Philosophie von Öcalan in weiten Teilen der kurdischen Gesellschaft – und darüber hinaus, wie die zunehmende Zahl an Internationalist:innen zeigt, die sich „in die Berge“ aufmachen, um den Verwüstungen zu entkommen, die die kapitalistische Moderne den Menschen und der Natur antut. Niemand begibt sich auf diesen Weg, um das Zünden eines Sprengsatzes zu lernen. Gesucht wird das Menschsein jenseits von Staat, Macht und Gewalt.
Deshalb ist der PKK zu gratulieren für den Aufbruch am 15. August 1984. Heute mehr denn je.
¹ Roadmap für die Demokratisierung der Türkei und die Lösung der kurdischen Frage
² Verfassungsschutzbericht 2022 des BMI