Zivilisten gefoltert und aus Hubschrauber gestoßen?

Zwei Kurden werden in Elkê während der Feldarbeit von türkischen Soldaten festgenommen. Nun liegt einer der Männer nach schwerer Folter im Koma, der andere leidet unter Gedächtnisverlust. Laut Zeugen sollen sie aus einem Hubschrauber gestoßen worden sein.

Seit Tagen beschäftigt ein schwerwiegender Verdacht die kurdische Öffentlichkeit. Viele Menschen fragen sich, ob die dunkle Periode der 1990er Jahre wieder zurück ist, als schwere Folter und das „Verschwindenlassen“ von unliebsamen Menschen zum Alltag in den kurdischen Gebieten gehörte. Ein doppelter Fall aus Elkê (türk. Beytüşşebap) in der Provinz Şirnex (Şırnak) deutet darauf hin.

Am Freitag vor einer Woche werden die Zivilisten Osman Şiban (50) und Servet Turgut (55), Väter von sieben bzw. acht Kindern, in einem Weiler des Dorfes Karçana (Çığlıca), der an den südlich gelegenen Landkreis Şax (Çatak) in der Provinz Wan grenzt, während der Feldarbeit von Soldaten einer türkischen Operationseinheit festgenommen und in einen Militärhubschrauber verfrachtet. Zwei Tage lang weiß niemand, wohin die beiden Männer gebracht wurden, Auskunftsverlangen von Angehörigen bei den zuständigen Behörden verlaufen ergebnislos.

Folteropfer in staatlichem Krankenhaus

In Eigeninitiative können die Familien in Erfahrung bringen, dass Şiban und Turgut auf der Intensivstation des Lehr- und Forschungskrankenhauses von Wan liegen. Osman Şiban ist zwar bei Bewusstsein, leidet aber unter Gedächtnisverlust. Sein Körper ist gezeichnet von schweren Folterspuren. Servet Turgut befindet sich sogar im Koma. Augenzeugen wollen gesehen haben, dass die beiden Männer aus einem Hubschrauber gestoßen wurden. Der HDP-Abgeordnete Murat Sarısaç hat mit ihnen gesprochen und die türkische Regierung in einer schriftlichen Anfrage zu einer Stellungnahme aufgefordert. Ob sich Ankara zu den Vorwürfen äußern wird, bleibt abzuwarten.

„Blutbeimengungen im Erbrochenen“

Was ist bisher bekannt? Nach Recherchen der Opferangehörigen, deren Ergebnisse inzwischen von Sarısaç bestätigt werden konnten, wurden Şiban und Turgut am 11. September, dem Tag ihrer Festnahme, von Soldaten der türkischen Armee zunächst in eine private Klinik gebracht. Aus der medizinischen Dokumentation zum „mittelschweren“ Gesundheitszustand von Osman Şiban gehe hervor, dass der 50-Jährige „Blutergüsse in beiden Augen und Prellungen sowie Quetschungen an Kopf, Hals und Gesicht infolge eines stumpfen Traumas“ aufweise, zudem „Blutbeimengungen im Erbrochenen“ zu finden seien. „Die Hintergründe der Verlegung in ein staatliches Krankenhaus sind darauf zurückzuführen, dass in dem Bericht die Notwendigkeit einer intensivmedizinischen Behandlung von Şiban festgehalten wird“, erklärt Sarısaç.

„Intubation vorgenommen“

Im Attest über die ärztliche Untersuchung von Servet Turgut heißt es: „Unbekannter Patient wurde infolge eines Sturzes aus der Höhe eingeliefert. Intubation vorgenommen.“ Das bedeutet, dass Turgut zum Zeitpunkt der Einlieferung ins Krankenhaus nicht mehr atmete und wiederbelebt werden musste. Es wird davon ausgegangen, dass die Soldaten dem Gesundheitspersonal den Hinweis auf einen „Sturz“ gaben. Des Weiteren würden Brüche der Blutgefäße an Augen und Ohren sowie Hautblutungen dokumentiert, außerdem sei die oberste Hautschicht beider Hände und im Bereich der vorderen Brustwand abgetragen. Die Verletzungen deuten auf Formen von äußerst schwerer Folter hin.

Murat Sarısaç: Folter wird zur regelmäßigen Praxis

Laut Murat Sarısaç sind Angriffe auf Zivilisten wie im Fall aus Elkê keine Einzelfälle, sondern werden mehr und mehr zur regelmäßigen Praxis. Dies sei das Ergebnis der polarisierenden und spaltenden Staatsführung der AKP/MHP-Regierung. „Die Straflosigkeit als integraler Bestandteil der Sicherheitspolitik, die ausschließlich auf die sogenannte Aufstandsbekämpfung ausgerichtet ist und Gesetze sowie das menschliche Leben vollkommen ignoriert, führt dazu, das sich solche Ereignisse ständig wiederholen.” Insbesondere im Raum Wan, sagt der Politiker.

Elkê gehört zwar verwaltungstechnisch zu Şirnex, da die Verbindung nach Şax allerdings kürzer ist, wird der Kreis in vielerlei Hinsicht zu Wan gezählt.

Wan: Beispiel des Ausnahmezustands in Kurdistan

In der Tat ist in der Region Wan ein deutlicher Anstieg von extralegalen Hinrichtungen und versuchten Exekutionen durch Angehörige der türkischen Armee zu beobachten. Vor zwei Tagen wurde der Hirte Orhan Hanay aus dem Landkreis Ebex (Çaldıran) durch Schüsse aus einer Militärstellung verletzt. Anfang August war ebenfalls in Ebex der 46 Jahre alte Grenzhändler İbrahim Baykara von Soldaten erschossen worden. Zwei Wochen zuvor wurde am selben Ort dem 15-jährigen Azat Bağa beim Hüten einer Schafherde von Soldaten in den Rücken geschossen. Mitte Juni starb der 20-jährige Hirte Emrah Görür aus dem Kreis Elbak (Başkale) an einer tödlichen Schussverletzung, die im Soldaten zugefügt hatten. 

Bevölkerung wird als Bedrohung angesehen

Auch werden in Wan immer öfter Aktivist*innen auf offener Straße von Unbekannten in Autos gezwungen und verschleppt. Unter Drohungen wird von ihnen verlangt, dass sie mit dem Staat zusammenarbeiten. Die Provinz gilt als ein Beispiel des Ausnahmezustands in Nordkurdistan. Offenbar wird die gesamte Bevölkerung von Wan als Bedrohung angesehen.