Wan: Entführungen als Mittel der staatlichen Repression

In letzter Zeit nimmt in der nordkurdischen Provinz Wan die Zahl von Entführungen auf offener Straße zu. Vertreter*innen von politischen Parteien und Menschenrechtsorganisationen sehen dahinter eine Staatspolitik.

Immer wieder werden Aktivist*innen in Wan auf offener Straße von Unbekannten in Autos gezwungen und verschleppt. Unter Drohungen wird von ihnen verlangt, dass sie mit dem Staat zusammenarbeiten. Einer der Fälle ist der von Hatice Büşra Kuyun. Wie wir bereits berichtet hatten, wurde Büşra Kuyun, Mitglied im Exekutivrat der HDP-Jugend und im Parteirat der HDP, in Rêya Armûsê in der Provinz Wan (Van), von Personen, die sich als Polizisten ausgaben, verschleppt und bedroht. Die Entführung vor etwas mehr als einer Woche hatte keinerlei juristische Konsequenzen, weder die Polizei noch der Gouverneur gaben eine Erklärung dazu ab. Vertreter*innen von Parteien und Menschenrechtsorganisationen sehen in Angriffen wie diesem ein Indiz dafür, dass die Praxis des „Verschwindenlassens” der 90er Jahre wieder aufgenommen werden sollen.

Entführungen und Bedrohungen geschehen auf offener Straße

Der Ko-Vorsitzende des Provinzverbands der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Ökkeş Kava, berichtet, dass es sich bei der Verschleppung von Büşra Kuyun um keinen Einzelfall handelt und Entführungen von politisch aktiven Menschen in der letzten Zeit in der Region zugenommen haben. Er berichtet dazu: „Mitglieder unserer Partei werden entführt, ihnen wird mitten auf der Straße der Weg abgeschnitten, und sie werden mit dem Tod bedroht. Diese finsteren Kräfte empfinden nicht einmal die Notwendigkeit, das heimlich zu tun. Sie machen das ganz offen. Büşra Kuyun wurde am helllichten Tag, mitten auf einer belebten Straße gezwungen, in ein Auto einzusteigen. Sie wurde in Richtung Elbak gebracht und auf dem Weg bedroht, ihre Arbeit in der Partei aufzugeben.

Verschleppungen sind systematische Staatspolitik

Sie passierten Kontrollpunkte und durften einfach so durchfahren. Wie kommen sie an fünf verschiedenen Kontrollpunkten und den Überwachungskameras vorbei? Das zeigt, dass es sich hierbei um eine systematische Politik des Staates handelt, in die das Innenministerium einbezogen ist. Sonst könnten sie das nicht so entspannt – und schon gar nicht am helllichten Tag – machen. Sie haben sogar gesagt: ‚Du kannst Anzeige erstatten, das ist für uns kein Problem.‘ So sicher fühlen sie sich.“

Wir werden diese Kräfte nicht in Ruhe lassen

Kava kündigt an, dass die HDP dieses Thema ins Parlament tragen werde: „In Wan entwickelt sich eine Situation schlimmer als in den 90er Jahren. Wir sind an eine solche Situation gewöhnt und setzen unseren Kampf fort. Die Repression bringt uns dazu, noch mehr zu kämpfen und für Demokratie einzutreten. Das wird unsere Antwort sein. Wir werden unsere Rechte verteidigen. Das, was man in diesem Land Staatsanwaltschaft nennt, ist keine Institution, die für Gerechtigkeit sorgt. Wenn die Staatsanwaltschaft behauptet, die HDP sei keine legale Partei, dann führt das natürlich zu solchen Ergebnissen. Gegen unsere Partei werden Spezialkriegsmethoden angewandt. Diese Angriffe stellen den Rechtsstaat in Frage.“

HDP-Abgeordneter Sarısaç: Auf Befehl der Regierung

Der HDP-Abgeordnete aus Wan, Murat Sarısaç, erklärt dazu: „Die Entführung von Büşra Kuyun fand mitten am Tag auf der Cumhuriyet-Straße statt. Es handelt sich um einen Vorfall mitten in Wan. Was den Entführten gesagt wird, ist sehr deutlich. Sie sagen: ‚Wir lassen euch hier nicht leben‘, Sie versuchen, die Betroffenen einzuschüchtern und als Spitzel anzuwerben. Wir wissen, was das am Ende bedeutet. Sollen die Massaker der 90er Jahre wiederholt werden? Aus meinem Auto ist ein Parteiratsmitglied verschleppt worden und es wurde behauptet: ‚Ein Terrorist im Auto eines Abgeordneten.‘ Politisch aktive Menschen werden auf vielfältige Weise bedroht.

Soldaten ziehen von Dorf zu Dorf und bedrohen die Familien, die Angehörige bei der Guerilla haben. Das ist eine Politik jenseits jeden Rechts. Die Gesellschaft soll mit Kurdenfeindlichkeit polarisiert werden. Andersdenkende werden zum Feind erklärt.

Die Angriffe auf den Leichnam von Ibrahim Gökçek von Grup Yorum sind inakzeptabel. Sogar Friedhöfe werden verwüstet. Der Religion zu Folge sollten Friedhöfe und Verstorbene unantastbar sein. Wenn ein Mensch stirbt, dann endet die Strafe. Aber die Regierung ordnet mitten im Ramadan die Zerstörung von Gräbern an.

Ist denn die kurdische Frage das Hauptproblem dieses Landes? Es wird erneut eine Politik der Massaker umgesetzt. Der Staat wendet alle möglichen grausamen Methoden gegenüber der Bevölkerung an. Wenn die Polizisten uns gegenübertreten und sagen können ‚Ich bin der Staat‘, wenn sie auf Kinder schießen, wenn sie Journalisten inhaftieren, dann ist das Staatspolitik. Es handelt sich zwar um keine physische, aber um eine politische, kulturelle und soziale Vernichtungsoperation.“

TUHAY-DER: Maßnahmen zur Spitzelanwerbung

Der Ko-Vorsitzende des Gefangenenhilfsvereins TUHAY-DER, Kinyas Başak, weist darauf hin, dass sich die Angriffe vor allem gegen junge Menschen richten: „Es findet eine Angriffspolitik gegen die Jugend statt. Sie soll in Angst versetzt werden. Das ist eine Praxis aus den 90er Jahren und sie dauert immer noch an. Die jungen Menschen werden mitten auf der Straße bedroht. Den Jugendlichen wird gesagt: ‚Helft uns, wir geben euch Geld, ansonsten bringen wir euch um oder stecken euch in den Knast.‘ Gegen diese Art von Repression muss der Kampf für Frieden und Demokratie noch weiter gestärkt werden.“

Hanife Güzel vom Forschungszentrum für Binnenmigration in Wan bezeichnet die Praxis der Entführungen und Morde als eine Tradition des türkischen Staates. „Die Morde ‚unbekannter Täter‘ der 90er Jahre haben mit solchen Entführungen begonnen. In den 90er Jahren wurden die Menschen mit weißen Renault Toros verschleppt, heute sind es Ford Ranger. Ich gehe davon aus, dass es sich bei den Entführungen der letzten Tage nicht um isolierte Ereignisse handelt. Wir hören oft von Entführungen und Drohungen in der Umgebung. Es gibt nicht einmal einen juristischen Mechanismus, mit dem sich die Menschen schützen können“, kritisiert Güzel.