TJA-Aktivistinnen nach fast einem Jahr aus U-Haft entlassen

Fast ein Jahr lang waren neun Aktivistinnen der kurdischen Frauenbewegung TJA wegen Terrorverdachts in Ankara inhaftiert. Nun wurden sie überraschend aus der U-Haft entlassen. Doch der Prozess geht weiter. Die Anlage fordert hunderte Jahre utopische Haft.

Weil sie sich mitgliedschaftlich für eine „terroristische“ Vereinigung betätigt haben sollen und teilweise auch leiten würden, sind fast zwei Dutzend Aktivistinnen der Bewegung freier Frauen (Tevgera Jinên Azadî, kurz TJA) in Ankara angeklagt. Das auf die Oberstaatsanwaltschaft der türkischen Hauptstadt zurückgehende Verfahren richtet sich gegen insgesamt 22 Aktivistinnen, von denen sich zehn seit Dezember vergangenen Jahres im berüchtigten Frauengefängnis Sincan befanden. Neun von ihnen sind nun beim Prozessauftakt an einer Strafkammer in Ankara überraschend aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Doch der Prozess geht weiter. Insgesamt 935 Jahre Gefängnis für die 22 TJA-Aktivistinnen werden in dem Verfahren von der obersten Anklagebehörde Ankaras gefordert.

Bei den entlassenen Frauen handelt es sich um Amine Demir Çoban, Gülistan Dehşet, Didar Çeşme, Bedia Akkaya, Figen Aras Kaplan, Hatice Güngör, Hülya Kınağu, Figen Ekt und Mekiye Ormancı. Sie haben das Gefängnis in der Nacht zum Freitag verlassen und wurden von Familienangehörigen, Freundinnen und Weggefährten mit Applaus und Trillern empfangen. Im Fall von Zeynep Boğa ordnete das Gericht die Fortsetzung der Haft an. Zur Begründung hieß es, es bestünde Fluchtgefahr.

Gegen die Angeklagten Tamcihan Çelebi, Besile Narin, Meral Şimşek, Zekiye Güler, Hülya Taşar, Yeliz Ayyıldız Kıyak, Dilan Akpolat, Aysel Ceylan, Hazal Aras und Beritan Can Yaşa unmittelbar nach ihrer Verhaftung vor knapp einem Jahr verhängte Meldeauflagen hob das Gericht ebenfalls auf. Und auch der gegen Sultan Esen und Merve Demirel verfügte Hausarrest ist nicht mehr in Kraft. Wann das Verfahren fortgesetzt werden soll, teilte die zuständige Kammer noch nicht mit.

Vorgängerorganisation per Notstandsdekret verboten

Die TJA ist Ende 2016 gegründet worden. Das Paradigma einer freiheitlichen, ökologisch-demokratischen und frauenbefreiten Gesellschaft ist eines der Grundprinzipien, für das sie sich in Nordkurdistan und der Türkei einsetzt. Bis zu ihrer Gründung führte die TJA ihren Kampf unter dem Namen ihrer Vorgängerorganisation „Kongreya Jinên Azad“ (Kongress der freien Frauen), die im Zuge des mutmaßlich vorgetäuschten Pseudo-Putschs von 2016 per Notstandsdekret verboten wurde. Die Bewegung agiert als eingetragener Verein und ist legal. Dennoch wird sie von türkischen Ordnungsbehörden und Justiz als „PKK-Struktur“ behandelt und entsprechend kriminalisiert.

Angeklagt für Aktivitäten der KJA

Das spiegelt sich auch in der Anklageschrift gegen die 22 TJA-Aktivistinnen wider, die allesamt in Amed (tr. Diyarbakır) wohnhaft sind. Die ersten 20 des insgesamt 339 Seiten langen Papiers sind der Struktur der Frauenorganisierung innerhalb der PKK sowie den Satzungen der KJA und dem 2016 ebenfalls verbotenen Verband der jungen demokratischen Frauen (ÖDGK) gewidmet. Darüber hinaus tauchen Ausführungen und Medienberichte über angeblich verbotene Veranstaltungen der KJA zu Femizid, Frauenkämpfen, Selbstverteidigung und Umweltschutz auf, an denen die Frauen teilgenommen haben sollen. Auch seien sie auf unterschiedliche Weise in den „Wirtschaftsbeirat für Frauen“ der KJA integriert gewesen, der einkommensschwache Frauen unterstützte und die ökonomische Stärkung von Frauen forcierte.

Teilnahme an 8.März-Demos und Protest gegen IS „Beweise“ für Terrorismus

Als weitere Indizien für die „Schuld“ der Frauen werden Presseerklärungen und Demonstrationen der KJA genannt. Dabei geht es unter anderem um den Aufruf „Wir stehen Kobanê bei“, der während des Angriffs der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) im Oktober 2014 auf die kurdische Stadt im Norden von Syrien veröffentlicht wurde, sowie Protestaktionen zum internationalen Frauenkampftag 8. März und am 25. November, der weltweit als Tag gegen Gewalt an Frauen begangen wird. Dass die KJA gegen den IS-Anschlag vom 20. Juli 2015 auf das Kulturzentrum Amara in Pirsûs (tr. Suruç), der 33 hauptsächlich junge Todesopfer forderte, protestierte und das Attentat als „Massaker“ bezeichnete, wird von der Staatsanwaltschaft ebenfalls als Nachweis für eine „offenkundige terroristische Betätigung“ ausgelegt.

Staatsanwalt: Ausgeschaltetes Handy Indiz für Aufenthalt in Qendîl

Als weitere vermeintliche Indizien werden Überweisungen für Einkäufe der KJA – etwa Käse oder Honig – sowie private Geldtransfers von Vereinsmitgliedern und ihren Angehörigen, die Teilnahme an einer Konferenz des Demokratischen Kongresses der Völker (HDK), aber auch das „Ausschalten von Mobilfunktelefonen für einen längeren Zeitraum“ genannt. Letzteres sei „vermutlich“ nur deshalb geschehen, weil sich die Frauen in den Qendîl-Bergen – dort hat die PKK ihre Zentrale – aufgehalten hätten, mutmaßt die Staatsanwaltschaft. Ihre angeblichen „Zeugen“ sind Personen wie Kerem Gökalp, auf dessen „Aussagen“ auch in dem als Kobanê-Verfahren bekannten politischen Schauprozess gegen die HDP zurückgegriffen wird.