Türkische Justiz holt zum Schlag gegen TJA aus

Durch die Existenz der „Bewegung Freier Frauen“ soll die Türkei ein „Terrorismusproblem“ haben, behauptet die Oberstaatsanwaltschaft Ankara. Deshalb hat sie Anklage gegen 22 Aktivistinnen der kurdischen Organisation erhoben – und fordert 935 Jahre Haft.

Die kurdische Frauenbewegung inspiriert alle möglichen Freiheitskämpfe – deshalb soll sie zumindest in der Türkei handlungsunfähig gemacht werden. Die Anklageschrift der Oberstaatsanwaltschaft Ankara im Verfahren gegen mehrere Aktivistinnen der „Bewegung Freier Frauen“ (Tevgera Jinên Azad, kurz TJA) scheint die Absicht der türkischen Justiz widerzuspiegeln, kämpfende kurdische Frauen aus dem Weg zu räumen. Fast tausend utopische Jahre Gefängnis fordert die Behörde, die sich schon länger als Knüppel der Regierung betätigt, für 22 TJA-Aktivistinnen, denen sie die Leitung und Mitgliedschaft in einer „terroristischen Vereinigung“ vorwirft. Gemeint mit der vermeintlichen „Terrororganisation“ ist keine andere als die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).

Massenfestnahmen im November

Zum Schlag gegen die TJA hatte der Chefankläger in der türkischen Hauptstadt bereits im vergangenen Jahr ausgeholt. Ende November waren auf Geheiß der Behörde knapp sechzig Wohnungen in insgesamt vierzehn Provinzen des Landes von der Polizei gestürmt worden, unter anderem in Amed, Mêrdîn und Istanbul. Die Namen von fünfzig Frauen standen auf der Liste der gesuchten Personen, zehn von ihnen landeten später in Untersuchungshaft. Gegen zwölf weitere Aktivistinnen ordnete ein Gericht in Ankara polizeiliche Meldeauflagen an, das Verfahren gegen die restlichen 28 Frauen wurde abgetrennt. Die betroffenen Aktivistinnen hatten später beklagt, dass sie in Polizeigewahrsam misshandelt wurden.

Vorgängerorganisation per Notstandsdekret verboten

Die TJA ist Ende 2016 gegründet worden. Das Paradigma einer freiheitlichen, ökologisch-demokratischen und frauenbefreiten Gesellschaft ist eines der Grundprinzipien, für das sie sich in Nordkurdistan und der Türkei einsetzt. Bis zu ihrer Gründung führte die TJA ihren Kampf unter dem Namen ihrer Vorgängerorganisation „Kongreya Jinên Azad“ (Kongress der freien Frauen), die im Zuge des mutmaßlich vorgetäuschten Pseudo-Putschs von 2016 per Notstandsdekret verboten wurde. Die Bewegung agiert als eingetragener Verein und ist legal. Dennoch wird sie von türkischen Ordnungsbehörden und Justiz als „PKK-Struktur“ behandelt und entsprechend kriminalisiert.

Angeklagt für Aktivitäten der KJA

Das spiegelt sich auch in der bei Gericht eingereichten Anklageschrift gegen 22 ihrer Aktivistinnen wider. Die ersten 20 des insgesamt 339 Seiten langen Papiers sind der Struktur der Frauenorganisierung innerhalb der PKK sowie den Satzungen der KJA und dem 2016 ebenfalls verbotenen Verband der jungen demokratischen Frauen (ÖDGK) gewidmet. Darüber hinaus tauchen Ausführungen und Medienberichte über angeblich verbotene Veranstaltungen der KJA zu Femizid, Frauenkämpfe, Selbstverteidigung und Umweltschutz auf, an denen die Frauen teilgenommen haben sollen. Auch seien sie auf unterschiedliche Weise in den „Wirtschaftsbeirat für Frauen“ der KJA integriert gewesen, der einkommensschwache Frauen unterstützte und die ökonomische Stärkung von Frauen forcierte.

Teilnahme an 8.März-Demos und Protest gegen IS „Beweise“ für Terrorismus

Als weitere „Beweise“ für die „Schuld“ der Frauen werden Presseerklärungen und Demonstrationen der KJA genannt. Dabei geht es unter anderem um den Aufruf „Wir stehen Kobanê bei“, der während des Angriffs der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) im Oktober 2014 auf die kurdische Stadt im Norden von Syrien veröffentlicht wurde, sowie Protestaktionen zum internationalen Frauenkampftag 8. März und am 25. November, der weltweit als Tag gegen Gewalt an Frauen begangen wird. Dass die KJA gegen den IS-Anschlag vom 20. Juli 2015 auf das Kulturzentrum Amara in Pirsûs (tr. Suruç), der 33 hauptsächlich junge Todesopfer forderte, protestierte und das Attentat als „Massaker“ bezeichnete, wird von der Staatsanwaltschaft ebenfalls als Nachweis für eine „offenkundige terroristische Betätigung“ ausgelegt. Als weitere vermeintliche Beweise werden Überweisungen für Einkäufe der KJA – etwa Käse oder Honig – sowie private Geldtransfers von Vereinsmitgliedern und ihren Angehörigen, die Teilnahme an einer Konferenz des Demokratischen Kongresses der Völker (HDK), aber auch das „Ausschalten von Mobilfunktelefonen für einen längeren Zeitraum“ genannt. Letzteres sei „vermutlich“ nur deshalb geschehen, weil sich die Frauen in den Qendîl-Bergen – dort hat die PKK ihre Zentrale – aufgehalten hätten, mutmaßt die Staatsanwaltschaft. Ihre angeblichen „Zeugen“ sind Personen wie Kerem Gökalp, auf dessen „Aussagen“ auch in dem als Kobanê-Verfahren bekannten politischen Schauprozess gegen die HDP zurückgegriffen wird.

Anklageschrift nach Amed geschickt

Insgesamt 935 Jahre Gefängnis für die 22 TJA-Aktivistinnen werden in dem Verfahren von der obersten Anklagebehörde Ankaras gefordert. Ihre Namen lauten Aysel Ceylan, Bedia Akkaya, Hülya Kınağu, Gülistan Dehşet, Amine Demir Çoban, Mekiye Ormancı, Figen Aras Kaplan, Figen Ekti, Didar Çeşme und Hatice Güngör (alle in Untersuchungshaft) sowie Beritan Can Yaş, Hazal Aras, Dilan Akpolat, Yeliz Ayyıldız, Hülya Taşar, Zeynep Boğa, Zekiye Güler, Tamcihan Çelebi, Sultan Esen, Besile Narin, Hatice Yaman und Meral Şimşek. Die Anklageschrift wurde zunächst bei einer der großen Strafkammern in Ankara eingereicht. Wegen ortsbezogener Nichtzuständigkeit wurde die Sache aber an ein Gericht in Amed abgegeben. Formell wurde die am Donnerstag im Justizpalast für die kurdische Provinz vorgelegte Anklageschrift aber noch nicht angenommen. Es gilt jedoch als wahrscheinlich, dass das Verfahren zugelassen wird.