Selbstverteidigungskampagne der Frauenbewegung geht weiter

Die am 15. September von der kurdischen Frauenbewegung TJA gestartete Kampagne „Wir verteidigen uns selbst“ geht auch im neuen Jahr weiter.

Am 15. September gab die Bewegung Freier Frauen (Tevgera Jinên Azad, TJA) in Nordkurdistan den Startschuss ihrer Kampagne „Em xwe diparêzin“ (Wir verteidigen uns selbst). Seitdem wurden in etlichen Städten Veranstaltungen, Seminare und Aktionen durchgeführt. Die Kampagne läuft unter drei Überschriften: Organisierung, Muttersprache, Bildung und Aktion. Im Rahmen der Initiative finden viele Aktionen gegen die Isolation Abdullah Öcalans, gegen Repression, Belästigung, Vergewaltigung und gegen Angriffe auf die Muttersprache und die Diversität der Weltanschauungen statt.

Im ANF-Gespräch berichten Gülizar Ipek vom Frauenrat des Gewerkschaftsverbands KESK in Mêrdîn (tr. Mardin) und der Frauenbewegung TJA sowie Leyla Atsak vom HDP-Frauenrat in Wan (Van) über die Entwicklungen und Perspektiven im Zusammenhang mit der Kampagne.

Zuhause der „kleine Feind”, draußen der „große Feind“

Ipek erklärt, warum die Kampagne gerade zu diesem Zeitpunkt gestartet wurde und jetzt besonders wichtig sei: „Wir haben unsere Kampagne in einer Zeit begonnen, in der durch die Spezialkriegspolitik die Gewalt gegen Frauen, die Übergriffe und die Femizide zunehmen. Wie Sie wissen, handelt es sich bei den Angriffen auf Frauen um eine ständig von den Staaten eingesetzte Praxis. Sie haben ihre Politik auf Spaltung und Angriff aufgebaut. Sie wollen nicht, dass sich die Frauen vereinen. Wir organisieren die Frauen, um gemeinsam zu handeln. Wir erzählen ihnen, wie sie gegen die Gewalt des Männer-Staat-Komplexes Haltung beziehen sollten.“ Ipek beschreibt die Situation von Frauen als Spagat zwischen dem „kleinen Feind zu Hause“ und dem „großen Feind draußen“.

„Die Verbundenheit unter Frauen soll ausgelöscht werden“

Gülizar Ipek erinnert an die Massaker des türkischen Staates in Cizîr (Cizre) Nisêbîn (Nusaybın), Sûr, Colemêrg (Hakkari) und Wan im Krieg um die Städte im Jahr 2015 und beschreibt diese Zeit als Zäsur im Leben von Frauen. Durch ihre Zwangsumsiedlung in staatliche Wohnblöcke nach der Zerstörung der Städte habe der Staat versucht, die Verbundenheit zwischen den Menschen zu unterbrechen. Das habe das entscheidende Hindernis gegen patriarchale Gewalt – die Frauensolidarität – unterminiert. Sie führt aus: „Sie haben die Verbindungen der Frauen untereinander, welche die Gewalt zu Hause verhindern konnten, durchtrennt. Sie haben eine Struktur für die Gewalt geschaffen. Wir sehen das daran, wie deutlich die Gewalt gegen Frauen in Wan oder auch in Mêrdîn angestiegen ist.

Gülizar Ipek

Staat und Männer tun alles, um sicherzustellen, dass Frauen nicht kämpfen“

Frauen werden angegriffen, um der Gesellschaft ihre Identität zu nehmen. Wenn Frauen ihren Glauben an den Kampf verlieren, schließt das auch die Gesellschaft ein. Es geht darum, die Gesellschaft passiv zu machen. Werfen wir einen Blick auf den Widerstand: Vor allem in diesen Provinzen gibt es Festnahmen und Repression. Jede Morgendämmerung wird von einer neuen Operation begleitet. Staat und Männer tun alles, um sicherzustellen, dass Frauen nicht kämpfen. Sie machen das, um die Frauen von der Straße zu holen. Nach 2015 wurden alle Fraueneinrichtungen geschlossen. Das bringt es auf den Punkt. Genau dieses Ziel verfolgten auch die Angriffe auf den Frauenverein Roza und die Schließung des Kongresses der Freien Frauen (KJA) .“

Glaubt nicht, dass ihr unantastbar seid: Wir sind hier!

Die Gewerkschafterin erinnert an den Vergewaltiger Musa Orhan. Der türkische Unteroffizier ist angeklagt, die 18-jährige Kurdin Ipek Er aus Êlih (Batman) vergewaltigt und in den Suizid getrieben zu haben. Dennoch befindet er sich auf freiem Fuß. Ipek zitiert die Worte Orhans: „Ich habe das Dutzende Male gemacht und ich werde es wieder tun, mir passiert nichts“. Sie erklärt: „Sie tun es die ganze Zeit, und ihnen passiert nichts. Also sagten wir: ‚Wir sind hier und verteidigen uns gegen diejenigen, die sich selbst unantastbar fühlen.‘ Wir haben in diesem Land seit Jahren keinen uniformierten Vergewaltiger vor Gericht gesehen.

Wir ziehen von Ort zu Ort, von Viertel zu Viertel. Auf Frauenversammlungen berichten uns die Frauen von der Männergewalt, die sie erleben. Sehr viele Vergewaltigungen und Übergriffe sind im Rahmen dieser Kampagne ans Licht gekommen. Wir haben an jede Provinz angepasste Seminare durchgeführt und ein Bewusstsein geschaffen.“

Überall mit Übergriffen konfrontiert

Leyla Atsak sagt, kurdische Frauen seien überall, wo sie leben, mit Übergriffen konfrontiert. Atsak weist auf die Legitimierung patriarchaler Gewalt durch den Staat hin und erklärt: „Die Istanbul-Konvention hat vor allem hier an Bedeutung gewonnen. Die gesellschaftlichen Zwänge produzieren überall die gleichen Probleme. Frauen wird die Rolle der Mutter und Hausfrau zugeschrieben. Das stellt insbesondere in Wan ein ernstes Problem dar. In Wan ist das Bildungsniveau sehr niedrig. Frauen sind aufgrund der feudalen und konservativen Struktur in ihren Häusern eingesperrt. Deswegen ist die Unterdrückung von Frauen dort besonders heftig. Die Frauen wenden sich vor allem aufgrund von Problemen, die aus dieser Form der Unterdrückung entstehen, an uns. Doch die Frauen sollen gegenüber diesen Angriffen schweigen.“

Leyla Atsak

Wir werden nicht gegenüber dieser Isolation schweigen“

Atsak fährt fort: „Die Isolation spiegelt sich im Leben der Frauen heute ganz deutlich wider. Diese Gewalt hat systemischen Charakter. Wir kämpfen gegen alle Arten von Gewalt. Frauen kämpfen für Freiheit und Gleichberechtigung und gehen an die Öffentlichkeit. Das gilt insbesondere für die kurdischen Frauen. Sie konnten nicht zur Sprache bringen, was sie in unserem Land unter dem Begriff der ‚Ehre‘ erlebt haben. Das ist auch ein Ergebnis der Isolation. Aber es gibt Frauen, die offen ihre Stimme gegen Männergewalt erheben. Sie sind nicht mehr bereit, gegenüber der Isolation zu schweigen.“