Ronahî Serhad: Die Ziele der Frauen sind größer geworden

Frauenbefreiung wird nicht mehr als Forderung nach einem Recht behandelt. Die Geschlechterunterdrückung wird von der Wurzel her hinterfragt und als Systemfrage diskutiert, stellt Ronahî Serhad (PAJK) im Rückblick auf 2020 fest.

Ronahî Serhad, Mitglied der Koordination der Partei der freien Frauen Kurdistans (PAJK), zieht im Interview eine Bilanz der Proteste des Jahres 2020 und geht auf die neue radikale Theorie und Praxis in der Frauenbewegung ein.

Welches Erbe hat uns das Jahr 2020 aus der Sicht der Frauenbefreiungsbewegung hinterlassen?

Wenn wir die richtigen Schlüsse aus den Daten des Jahres 2020 ziehen, können wir eine Perspektive für 2021 schaffen. Der Beginn des Kampfes der widerständigen Frauen war der 8. März. Die kurdischen Frauen sind unter dem Slogan ‚Die Welt wird durch Frauen verändert‘ auf die Straße gegangen. An anderen Orten auf der Welt lautete das Motto ‚Wenn Frauen die Arbeit niederlegen, steht die Welt still‘. Wir sollten das nicht nur als Versammlungen sehen. Es gab riesige Proteste, gemeinsamen Tanz und unterschiedlichste Aktionsformen. Wir konnten einen Anstieg von gewerkschaftlichen Kämpfen und einen ausdauernden Widerstand der politischen Gefangenen beobachten. Es wurde gegen sexistische Gesetze gekämpft, mit denen die Unterdrückung von Frauen festgeschrieben wird. Es gab Aktionen, die politische, soziale, ökonomische, kulturelle und gesundheitliche Probleme sowie Probleme im Bildungsbereich thematisierten.

Die Frauenaufstände hatten gemeinsame Ziele. Sie gingen gegen Vergewaltigung, Gewalt, Mord und Vertreibung auf die Straße. Sie haben die Notwendigkeit gemeinsamer Organisierung, gemeinsamer Verteidigung und des gemeinsamen Kampfes deutlich gemacht. Sie haben ihre Kraft zur Veränderung gezeigt. Diese Reaktionen haben sich nicht von allein entwickelt und sind auch kein zyklisches Phänomen. Genau wie die Organisierung hat sich auch die Einigkeit über die Ablehnung des Systems ausgeweitet. Wir haben uns in einem globalen Kampf zusammengefunden.

So wie die Krise des Systems global ist, hat sich auch der Kampf gegen das System global ausgebreitet. Dabei haben die Frauen den Kampf für Demokratie und Freiheit angeführt. Das konnten wir seit dem 8. März beobachten. Die Frauen haben erkannt, dass sie die gesellschaftliche Kraft des Wandels sind und haben gewissenhaft und planvoll gehandelt. Sie haben ihren Willen als Schöpferinnen von gesellschaftlicher Politik gezeigt. Sie haben sich aus dem Griff gelöst, der sie als Opfer festhielt, und waren als Subjekte auf der Straße. Sie haben Gerechtigkeit eingefordert und ihre eigene Lösung präsentiert, indem sie auf sich selbst vertrauten. Mutig und bereit, den Preis dafür zu zahlen, haben sie auf ihren Zielen beharrt.

Ein weiterer interessanter Aspekt ist, dass von jungen Frauen bis hin zu den unterschiedlichsten Berufsgruppen die durch soziale und kulturelle Unterschiede geschaffene Distanz aufgehoben wurde und so eine Kraft entstanden ist, die alle Teile der Gesellschaft für das gemeinsame Ziel zusammenbringt. Das wurde möglich, da im Fokus des Kampfes die männlich-hegemoniale Gewalt und und die sexistischen Gesetze stehen. Überall gab es große Versammlungen und Proteste gegen Missbrauch, Vergewaltigung und Feminizide. Die Frauen haben Rechenschaft von den Institutionen des Nationalstaats gefordert, aber haben von diesen nichts erwartet. Sie haben nicht auf die Versprechen der parlamentarischen Politik vertraut. Sie haben die Nutzlosigkeit sogenannter zivilgesellschaftlicher Organisationen gezeigt, die als verlängerter Arm des Staates agieren und sich mit der Frauenfeindlichkeit arrangiert haben. Sie haben mit dem Mittel der direkten partizipativen Demokratie auf den Plätzen, in den Straßen und bei den Streiks Politik gemacht. Wenn wir das mit den letzten Jahren vergleichen, ist das ein großer Unterschied.

Und die kurdischen Frauen?

Die kurdische Frauenbewegung hat als eine Bewegung, die seit den neunziger Jahren stark gewachsen ist, jedes Jahr den 8. März sehr besonders behandelt und radikale Aktionen durchgeführt, die der geschichtlichen Bedeutung des Tages gerecht werden. Sie hat als Frauenguerilla an der Front gegen die genozidale und revisionistische Politik des faschistischen türkischen Regimes und gegen die Unterdrückung der Frau gekämpft. Gegen den sogenannten Islamischen Staat hat sie als YPJ gekämpft. Um die Geschlechterunterdrückung zu überwinden, hat sie Haft und Hinrichtung riskiert, während sie unter kolonialen Bedingungen die Organisierung der Gesellschaft verstetigt hat. Wenn sie einen Platz unter einem Felsen oder einem Baum gefunden hat, hat sie ihn zu einer Bildungsstätte gemacht. Sie hat es nie versäumt, die Wahrheit laut herauszurufen gegenüber der Antipropaganda der Erdoğan-Regierung und der europäischen und NATO-Kräfte, die das von Nationalismus und religiösem Fundamentalismus getränkte AKP-Regime schützen.

Dann können wir also sagen, dass die Frauenbewegungen die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf das Thema Frauenbefreiung lenken konnten?

Wo wir auch hinsehen, was wir auch anfassen, sehen wir uns Problemen gegenüber. Die Frauenbewegungen haben die notwendigen Dinge auf die Tagesordnung gesetzt und sind 2020 in Aktion getreten. Sie haben ihrer Stimme auf unterschiedliche und reichhaltige Art Gehör verschafft. Ja, sie haben die Aufmerksamkeit der Gesellschaft erlangt. Das war nicht einfach. In einem Zustand von täglich neuer Gewalt und sensationellen Entwicklungen, in denen die Welt konstant mit den Ereignissen Schritt zu halten versucht, und angesichts der Verkettung unzähliger Probleme die Aufmerksamkeit trotzdem auf die Probleme der Frauen zu lenken und dazu noch auf die tatsächlichen Ursachen dieser Probleme einzugehen, war wirklich ein großer Erfolg. Wie ist das gelungen? Die Freiheit der Frau wurde nicht mehr als die Forderung nach einem Recht behandelt. Stattdessen wurde die Geschlechterunterdrückung von der Wurzel her hinterfragt und als Systemfrage diskutiert. Es wurde ein neues System des gesellschaftlichen Lebens ins Gespräch gebracht, bei dessen konkreter Ausgestaltung eine Führungsrolle übernommen wurde. Darauf bedacht, sich nicht auf die bestehenden Organisationen zu beschränken, hat sich das Bewusstsein über Organisierung als Lebensnotwendigkeit und die Relevanz des Aufbaus von eigenen Selbstverteidigungsstrukturen der Frauen weiter entwickelt.

‚Ni una menos‘, ‚Schluss mit der staatlich-patriarchalen Gewalt‘, ‚Feminizide sind politisch‘, ‘Defend Rojava’, ‚Wir werden uns nicht unterwerfen‘ und weitere Kampagnen und Aktionen unter verschiedenen Namen sind Ausdruck der Realität, die ich gerade beschrieben habe. Aufmerksamkeit kann also mit Kräftekonzentration, Willenskraft, klaren und konkreten Zielen und Zuversicht erreicht werden. Als Konsequenz dessen ist große Kreativität bei den Aktionen und in der Politik gezeigt worden. Die Gewalt des Nationalstaats, der hegemonialen Männlichkeit und der sexistischen Tradition gegenüber Frauen und der Gesellschaft, die Feminizide, Vergewaltigungen und Misshandlungen wurden tiefgehend hinterfragt. Die Sklaverei im Haushalt wurde lauter zur Sprache gebracht. Es wurde gekämpft dafür, dass kein Vorfall, kein Verbrechen vergessen oder vertuscht wird.

Die Kämpfe von Frauen rund um die Welt nehmen nach und nach einen Kurs an, der sich mit allen Arten gesellschaftlicher Probleme befasst. Lässt sich das mit der Suche nach einem neuen System erklären?

Das Hauptziel der Frauenaufstände, die sich im Verlauf des Jahres entwickelt haben, war die Abrechnung mit dem System und die Frage nach den Wurzeln von Macht und Gewalt. Bei all diesen Kämpfen wurden Opfer gebracht und trotzdem sind wir weit entfernt von einer Besserung. Im Gegenteil sind wir mit einer vielschichtigen Zunahme der Probleme konfrontiert. Obwohl das Prinzip der allgemeinen Gleichheit seinen Platz unter den Grundrechten in den Verfassungen gefunden hat, setzen das männlich-hegemoniale Bewusstsein und die von ihm geschaffenen Moralvorstellungen sowie die sexistische, nationalistische und religiös-fundamentalistische Politik des Nationalstaats diese Gesetze außer Kraft. Im Lauf der Zeit haben wir die Erwartung aufrecht erhalten, dass sich das gesellschaftliche Leben zum Besseren entwickeln wird. Gleichzeitig haben wir uns durch die Ausweitung der Ausbeutungspolitik Schritt für Schritt einem dritten Weltkrieg angenähert. Im Jahr 2020 konnten wir - während die Propaganda vom Voranschreiten der Gesellschaft, welches angeblich zu steigendem Wohlstand führt, auf breiter Front wiederholt wurde - besser als zuvor verstehen, wie wir alle von der fortschrittsgläubigen positivistischen Logik hinters Licht geführt werden. Das Lügengebäude von einem auf Freiheit und Grundrechten basierenden Kapitalismus und vom Kommunikations- und Informationszeitalter ist in sich zusammengefallen. Prostitution, Vergewaltigung, Missbrauch und der Verkauf von Frauen und Kindern haben eine fortgeschrittene Stufe erreicht. Die grellen Neonlichter des kapitalistischen Systems, das sich davon nährt, dass der ganzen Welt wie einem Konsumgut gegenüber getreten wird, verlöschen Tag um Tag und verlieren ihre Anziehungskraft.

Im Zentrum dieser schweren gesellschaftlichen Probleme liegt die Ausbeutung von Frauen. Deshalb rufen antikapitalistische und antimilitaristische Kreise, die antikapitalistischen muslimischen Bewegungen, Umweltbewegungen, Werktätige, Arbeitslose, Lehrende, sozialistische und demokratische Menschen, Liberale und Frauenbewegungen angesichts der Übel des Kapitalismus alle zusammen nach einem radikalen Systemwandel. Das kapitalistische System an sich ist krank und ständig in der Krise, weil es überall, wo es hinkommt, seine Krankheit verbreitet. Der Logik von ‚wachse oder sterbe‘ unterworfen, opfert der kapitalistische Sektor alles Lebendige den eigenen Interessen, so wie es auch Regierung und Nationalstaat tun. Sie töten Frauen. Sie nehmen gesellschaftlichen Werten ihre Bedeutung und zerstören damit ihre innere Struktur. Sie schaffen die Notwendigkeit kollektiver Beziehungen in der Gesellschaft ab und versuchen, einen Typ Anti-Mensch ohne Ethik, Ästhetik und Beziehungen zu kreieren. Alles wird zur Ware reduziert. Damit sich die Räder der Industrie weiter drehen, töten sie die Natur.

In den Frauenbewegungen ist eine Aufmerksamkeit gegenüber gesellschaftlichen Problemen zu Tage getreten, mit der verkürzte Denkweisen und Praktiken überwunden werden konnten. Allgemeine Probleme wurden mit dem Freiheitskampf der Frauen verknüpft. Es hat sich eine ganzheitliche Sicht auf die Frauenfrage entwickelt, bei der auch die Lösung anderer gesellschaftlicher Probleme berücksichtigt wird. Die Notwendigkeit dessen wurde in Theorie und Praxis betont. Die Frauen haben endlich aufgehört, zu versuchen, sich in der Realität einer patriarchalen Welt genau so viel Raum zu öffnen, dass es gerade für sie selbst reicht. Ihr Ziel ist jetzt eine von den Werten der Frau geprägte Welt. Diese Welt orientiert sich an Frauen, die eine eigene Kultur erkämpft haben. Mit dem Bewusstsein, dass das 21. Jahrhundert das Zeitalter der Frau sein wird, wird die Forderung nach einem friedlichen, demokratischen und ökologischen System der Gleichheit der Geschlechter, basierend auf den Gedanken, dem Herz und den Werten der Frau, noch klarer ausgedrückt. Zum ersten Mal in der Geschichte wird der gesellschaftliche Kampf von Frauen mit diesem Bewusstsein und diesem Vorhaben geführt. Die Reden von der Lösung innerhalb des Systems wurden als Produkte der Indoktrinierung erkannt, deren Inhalt der Natur des kapitalistischen Systems zuwider läuft. Dass die unter großen Opfern erkämpften Errungenschaften in Gefahr sind, ist für alle offensichtlich. Im Namen des religiösen Fundamentalismus werden Gruppen wie der sogenannte Islamische Staat, Al-Qaida, die Muslimbrüder und Boko Haram gegen die von Frauen angeführte gesellschaftliche Opposition eingesetzt. Der größte Unterstützer dieser Gruppen ist Erdoğan, der bei jeder Gelegenheit versucht, Frauen von Kämpfen und vom Arbeitsplatz zu trennen und für sie stattdessen eine Rolle als Sklavin der Männer vorsieht.

Die Frauenbewegungen nehmen umfassende Analysen der Ausmaße der Probleme und der daraus folgenden Notwendigkeit eines Systemwandels vor. Sie kritisieren die Definitionen, die die Frauenfrage von anderen gesellschaftlichen Problemen loslösen und auf ein singuläres Problem reduzieren wollen. Die Funktion der Ausbeutung von Frauen als Hauptquelle für andere gesellschaftliche Probleme wird von ihnen erkannt.

Können wir dann also von einem neuen Ansatz des Feminismus reden?

In der theoretischen Arbeit zur Freiheit der Frau entstehen neue radikale Methoden und ideologische Untersuchungen. Die zu diesem Zweck durchgeführten Diskussionen ‚Eine neue Feministische Theorie‘, ‚Frauenmanifest des 21. Jahrhunderts‘ und ‚Feminismus für die 99 Prozent‘ zeigen, dass die Basis für einen neuen Ansatz geschaffen wurde. Während sich in diesen dunklen Tagen der Faschismus ausbreitet und angesichts dessen selbst die liberale Opposition fortschrittlich erscheint, stellen die radikalen Ansätze, die Einzug in Theorie und Praxis der Frauenbewegungen gehalten haben, einen ehrlichen und mutigen Ansatz dar, der Hoffnung gibt. Im Kampf überwinden sie das System und bauen ein neues System auf. Sie betrachten die Frauenfrage in einem gesellschaftlichen Kontext. Sie sehen, dass ein Fokus auf die Zivilgesellschaft nicht ausreicht. Sie belassen es nicht nur beim Streik und hinterfragen das herrschende System kulturell und soziologisch. Diese Untersuchungen stützen sich auf die Struktur des Nationalstaats und die Realität des kapitalistischen Systems. Sie zeigen auf, wie notwendig ein neues Paradigma ist.