Die Anwältin und Ko-Vorsitzende des renommierten Menschenrechtsvereins IHD, Eren Keskin, bereitet sich auf die Teilnahme am Verfahren wegen der Vergewaltigung einer 15-Jährigen durch 27 Männer, unter ihnen Soldaten, Polizisten und Dorfschützer, vor. Das Verbrechen trug sich Kercews (türk. Gercüş) in der Provinz Êlih (Batman) zu. Eren Keskin beschreibt im ANF-Gespräch die Hintergründe der zunehmenden sexualisierten Gewalt in der Türkei und vor allem in Nordkurdistan.
„Die Zahlen spiegeln nicht die Realität wider!“
Keskin ist Gründerin des Rechtshilfebüros gegen sexualisierte Gewalt im Gewahrsam und des Rechtshilfevereins gegen sexualisierte Gewalt. Mit diesen Einrichtungen unterstützt sie seit 1997 von sexualisierter Folter betroffene Frauen, Kinder und Transfrauen mit kostenfreier juristischer Vertretung. In den vergangenen 23 Jahren hat Keskin 758 Frauen und Transfrauen betreut. Sie berichtet, dass die reale Zahl der Fälle sexualisierter Gewalt viel höher sei als die offiziellen Zahlen, da die Mehrheit der Verbrechen nicht ans Licht gebracht würde. Keskin erklärt: „Die Frauen und Mädchen können über die ihnen angetane sexualisierte Gewalt und die Übergriffe nicht reden. Sie fürchten sich, schämen sich, sie fühlen sich beschmutzt und glauben, es gäbe in ihrer Umgebung niemanden, der sich mit ihnen solidarisieren würde. Weil der Gesellschaft so eine patriarchale, militaristische, feudale Mentalität aufgezwungen wird, können viele Frauen ihr Leben lang nicht über ihre sexualisierten Gewalterfahrungen sprechen.“
„Straflosigkeit ist Staatspolitik“
Keskin beobachtet seit 1997 Verfahren wegen sexualisierter Gewalt durch Uniformierte. Dazu erklärt sie, dass bisher, auch wenn alle Beweise vorlagen, bis auf den Fall von zwei Dorfschützern keinerlei Mitglieder von Sicherheitskräften bestraft worden seien. Auch wenn sie Prozesse vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gewonnen habe, setze der Staat seine Politik der Straflosigkeit fort.
„Die Gewalt wird durch den Staat praktisch und verbal legitimiert“
Keskin spricht über das Beispiel von Ipek Er: „Ipek Er erlebte sexualisierte Gewalt durch einen Unteroffizier. Sie nahm sich das Leben und hinterließ einen Abschiedsbrief. Aber was ist passiert? Der Unteroffizier wurde sofort wieder freigelassen. Wir sagen nicht umsonst, dass die Frauenmorde politisch sind. So kann Alaatin Çakıcı, der vor den Augen ihres Kindes eine Frau ermordet hat, heute alle frei und offen bedrohen. Diese Drohungen stellen sich den anderen Männern als Form von Macht dar [der faschistische Mafiaboss und Freund des MHP-Vorsitzenden Devlet Bahçeli wurde im Rahmen der vom AKP/MHP-Regime 2019 durchgepeitschten Vollzugsreform aus der Haft entlassen]. Warum sagen wir, das ist politisch? Wenn ihr einen solchen Menschen nicht bestraft, wenn ihr ihn aus dem Gefängnis holt und ihn von allen seinen Taten freisprecht, wenn ihr ihm erlaubt, die Vorsitzenden von politischen Parteien zu bedrohen, dann führt das dazu, dass die Gewalt gegen Frauen zunimmt. Das bedeutet nichts weiter, als dass solche Verbrechen straffrei bleiben. Oder wenn der Innenminister seinen Sicherheitskräften befiehlt: ‚Wenn ihr sie [Drogenhändler] erwischt, dann brecht ihnen die Beine'. Dann wird Gewalt tätlich und verbal durch den Staat legitimiert. Deshalb begehen Staatsbedienstete so offen und frei diese Verbrechen. Sie wissen, dass sie keine Strafe erwarten. Das letzte Verbrechen in Kercews ist ebenfalls so zu bewerten.“
„Frauen sind das erste Angriffsziel in einem kriegerischen Umfeld“
Die Tatsache, dass die meisten sexualisierten Angriffe durch Uniformierte in Kurdistan geschehen, bringt Keskin mit der Kriegssituation in Verbindung. Sie sagt mit Blick auf die Weltkriege und die Erfahrungen von Ruanda und Bosnien: „In einer Kriegssituation wenden die Parteien solche Methoden an, um die andere Seite zu vernichten und ihre Identität zu zerstören. Die Rechtsverletzungen in Kurdistan haben ebenfalls diese Qualität. Sie fühlen sich vollkommen sicher dabei, in Kurdistan Rechtsverletzungen an Frauen zu begehen. Sie sehen ihr Gegenüber ohnehin als Feind. Das gibt ihnen das Gefühl, ich kann machen, was ich will und muss dafür keine Konsequenzen tragen. Das ist auch die Botschaft, welche die Freilassung von Musa Orhan aussendet. Wer den Wolfsgruß zeigt, kommt frei.“
„Was früher geleugnet wurde, findet jetzt öffentlich statt“
Keskin warnt, dass Folter und Gewalt gegenüber Frauen heute wie nie zuvor legitimiert werde. Insbesondere, dass sogar der Innenminister ganz offen Gewalt auf diese Weise rechtfertigt, stelle selbst in der türkischen Geschichte ein Novum dar. Früher seien solche Gewaltverbrechen verschleiert worden, jetzt fänden sie öffentlich statt, beschreibt Keskin die erschreckende Entwicklung.
„Das alles hängt mit dem Fehlen eines Rechtsstaats zusammen“
Keskin kritisiert, dass die Türkei keine der Konventionen zum Schutz von Frauen und Kindern vor Gewalt umgesetzt habe und sogar die Wichtigste, die Istanbul Konvention, in Frage stelle. „Es wird von Reformen geredet, aber es sind keine Reformen nötig, es müssen nur die existierenden Konventionen angewendet werden. Aber das geschieht nicht, denn bei der Türkei handelt es sich nicht um einen Rechtsstaat. Das geschriebene Recht und dessen Umsetzung unterscheiden sich hier gravierend. Das ganze Problem hängt mit dem Fehlen eines Rechtstaats zusammen. Da liegt das Problem“, betont sie.
„Mit Geheimhaltungsverfügungen sollen Anwälte aus dem Spiel genommen werden“
Über ihre Vorbereitungen zum Verfahren von Kercews sagt Keskin, dass der Staat versuche, die Anwält*innen der Klägerseite durch Geheimhaltungsverfügungen und Pressesperren aus dem Spiel zu nehmen, da diese die Wahrheit ans Licht bringen. Keskin schließt hierzu: „Die Akten werden vor den Anwältinnen und Anwälten und der Öffentlichkeit verheimlicht. So war es im Fall Nadira Kadirova, auch bei Ipek Er und jetzt in Kercews.“ Sie weist damit auf den Tod der Usbekin Nadira Kadirova hin, die in der Wohnung des AKP-Abgeordneten Şirin Ünal angeblich Selbstmord begangen haben soll.