Jakob Riemer – Revolutionär der heutigen Zeit

Vor sieben Jahren fiel der Hamburger Jakob Riemer als Guerillakämpfer Şiyar Gabar in Çarçella. Als junger Internationalist suchte er nach einer gerechteren Welt – und fand im kurdischen Freiheitskampf seine Antwort. Anja Flach erinnert sich an ihn.

„Für eine andere Welt“ – Zum siebten Todestag von Şiyar Gabar

Heute vor sieben Jahren ist Şiyar Gabar (Jakob Riemer) in Çarçella, einer Region im nordkurdischen Gever (tr. Yüksekova) innerhalb des Zagros-Gebirges, bei einem Luftangriff der türkischen Armee ums Leben gekommen. Er hatte sich in jungen Jahren dazu entschlossen, sich dem Kampf der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) anzuschließen und seine Suche nach der Frage „Wie wollen wir leben?“ dort weiterzuführen.

Jakob hatte ich nur wenige Male gesehen. Er besuchte mit seiner Gruppe den Prozess gegen den PKK-Aktivisten Ali Ihsan Kitay, der wegen PKK-Mitgliedschaft vor Gericht stand. An Ali Ihsans Prozess haben sich Viele politisiert.

„Mit Tränen in den Augen kam er nach Hause, wütend über das paternalistische Staatsverständnis des Richters und der Staatsanwaltschaft, dass der türkische Staat sehr wohl Gewalt ausüben dürfe, der kurdische Widerstand gegen die eigene Vernichtung aber nicht in Ordnung sei. Dass die Justiz hier der Politik offenbar folgte. Dass es nicht weit her sei mit der Gewaltenteilung“, berichtete sein Vater in einem Interview.

Später traf ich Jakob auf einer Demonstration für die Freiheit von Abdullah Öcalan. Er schloss sich der kurdischen Guerilla an, als er gerade einmal 19 Jahre jung war. Jakob ist ein St. Pauli-Junge. Seine Eltern sind Linke, er konnte die Schule besuchen, lebte in einem reichen Land, aber er sah hier im Kapitalismus nur noch Hoffnungslosigkeit. Er wollte sich nicht einfach Konsum und Sinnlosigkeit hingeben, während unser Heimatplanet unaufhaltsam auf den Kollaps zusteuert. Jakob war in linksalternativen Kreisen aktiv, aber merkte, dass er hier nicht viel erreichen konnte.


Auf einem Jugendmarsch für die Freiheit von Abdullah Öcalan 2013 traf Jakob auf kurdische Jugendliche, die den Kampf für eine gerechte und ökologische Welt nicht als Freizeitbeschäftigung zwischen Bachelorarbeit und bürgerlichem Leben ansahen, Jugendliche, für die Revolution kein cooles Accessoire, sondern eine Aufgabe war, der sie ihr gesamtes Leben widmen wollten. Jakob zögerte keine Minute, sondern fand sich innerhalb kürzester Zeit in den Bergen Kurdistans wieder, wo er sich der Guerilla anschloss. Fünf Jahre lang kämpfte er im schwierigsten Gelände, in den Zagros-Bergen im türkisch besetzten Kurdistan, er nahm den kurdischen Namen Şiyar an. Dies bedeutet aufgeweckt, wach.

„Wir reden von Freiheit und Demokratie, die wir schaffen wollen. Wenn wir diese Werte schaffen wollen, so müssen wir sie in uns selbst erschaffen. Wenn wir sie in uns selbst nicht aufbauen, wofür kämpfen wir dann? Wir müssen bei uns anfangen“, erklärte er in einem Interview. Er sagte auch: „Wir sind Revolutionäre, die Revolutionäre der heutigen Zeit“.  Er erkannte die große Idee Öcalans in der Alternative zu Kapitalismus und Patriarchat.  „Der Gesellschaftsentwurf von Abdullah Öcalan ist nicht nur für das kurdische Volk gedacht, sondern für alle Völker und überall umsetzbar. Nach der Revolution in Kurdistan gehen wir auch nach Deutschland und kämpfen dort für Befreiung. Oder wo auch immer, das wird sich zeigen“, so Jakob.

„Du entwickelst dich, du erlebst eine sehr starke Freundschaft. In der Partei ist es so, wenn du einen Erfolg mit großen Schwierigkeiten und über viele Hindernisse erreichst, so ist es umso schöner und natürlich auch einprägsamer. So entwickeln wir eine starke Verbindung zu dem Ort, an dem wir diese Praxis erlebt haben und dort wollen wir auch bleiben. Heval Şiyar sagte immer, dass er in Çarçella bleiben will“, erklärte mir ein Kampfgenosse von Jakob, den ich 2019 in Kurdistan traf.

Mitte 2018 verlor Jakob bei einem Luftangriff der türkischen Armee sein Leben. Er wurde dort in den Bergen begraben, mit weiteren Genoss:innen. Sein Grab ist nicht auf einem offiziellen Friedhof, denn die türkische Armee lässt nicht einmal zu, dass die gefallenen Kämpfer:innen der Guerilla würdevoll begraben werden.

Fast jeden Tag werden die Fotos von Mitgliedern der Guerilla und auch von YPG- und YPJ-Kämpfer:innen veröffentlicht, die ihr Leben im Kampf gegen den IS oder die türkische Armee verloren haben. Jugendliche, die ihr ganzes Leben eigentlich noch vor sich gehabt hätten.

Ich fühle mich Jakob sehr verbunden, auch wenn der Gedanke, dass er dort in den Bergen sein Leben verloren hat, unendlich schmerzt. Während der etwa zwei Jahre, die ich selbst bei der Guerilla war, habe ich unzählige Mitkämpfer:innen verloren. Natürlich würden wir alle uns wünschen, dass das nicht notwendig wäre. Gerade in Deutschland ist die Realität des Krieges sehr weit entfernt. Viele von Jakobs Freund:innen konnten es nicht nachvollziehen, warum er sich in solche Gefahr begab.

Für viele scheint es verrückt, wenn sich ein Junge, der hier in Deutschland Privilegien hatte, in den Krieg gegen die türkische Armee begibt, oder in den Kampf gegen den IS. Nur von wenigen Freund:innen verabschiedete sich Jakob, weil ihm klar war, dass sie diesen Schritt weder gutheißen noch nachvollziehen könnten.

Immer wieder bin ich, auch insbesondere in bürgerlich liberalen Kreisen, auf eine Ablehnung des bewaffneten Kampfes, wie er unter anderem durch die YPG und YPJ geführt wird, gestoßen. Hätten sich die YPG und YPJ jedoch nicht gegen den Islamischen Staat zur Wehr gesetzt, hätte der Mittlere Osten nun ein gewaltiges Problem – der IS hätte eine riesengroße Region unter seiner Kontrolle. Das, was in Rojava verteidigt wird, die reale Umsetzung des basisdemokratischen Projekts von Abdullah Öcalan, wäre vernichtet worden. Damit hätte der revolutionäre Kampf weltweit eine Niederlage erlitten.

Die aktuelle Situation in Nord- und Ostsyrien erfordert es, dass jede und jeder in der Bevölkerung in der Lage ist, sich und die Errungenschaften ihrer gesellschaftlichen Aufbauarbeiten notfalls auch bewaffnet zu verteidigen.

In der Guerilla kämpft man nicht in einer regulären Armee, man bekommt keinen Sold, ist also kein bezahlter Söldner oder Söldnerin, kein Soldat, sondern die Beteiligung ist freiwillig. Der Guerillakrieg ist ein asymmetrischer Krieg. Einfache Menschen aus der Bevölkerung kämpfen gegen Berufsarmeen, die mit den besten Waffensystemen ausgerüstet sind. Aber sie können trotzdem kaum besiegt werden, denn die Guerilla bewegt sich wie ein Fisch im Wasser in der Bevölkerung. Guerilla ist sich überall ähnlich, ob in den Dschungeln Lateinamerikas, oder auch im Kampf der Partisan:innen gegen den deutschen Faschismus.

Ohne die Guerilla gäbe es heute in der Türkei wohl keine Kurd:innen mehr, erst die Guerilla hat der Bevölkerung den Mut und die Kraft gegeben, gegen ihre Vernichtung Widerstand zu leisten.

Jakob war in den Bergen, in einem der schwierigsten Guerillagebiete Zagros, weil er wollte, dass der Traum von einer freien Welt, ohne Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Ausbeutung ein Ende findet. Auf späteren Bildern, einem Video, das von ihm gedreht wurde, sieht man, dass er in den Bergen erwachsen geworden ist. Dass sein Leben ein freies, selbstbestimmtes Leben war. Er bewegt sich in der Natur, als wäre er dort groß geworden, es ist sehr schön, ihn so zu sehen. Er ist einer von denen geworden, die die Menschlichkeit vertreten, einer, der den Europäer in sich getötet hat. Den Europäer, der bedenkenlos weiterlebt, obwohl die Lebensweise Europas unseren Heimatplaneten tötet.

In dem Video sieht man einen Menschen, der frei geworden ist. Wir hoffen, und setzen uns weiter mit all dieser Kraft dafür ein, dass die Träume von Jakob und allen anderen wahr werden, dass wir eines Tages in den freien Zagros-Bergen sein Grab besuchen können, die Menschen dorthin zurückkehren.

Jakob und Zehntausende andere junge Menschen haben erkannt, dass es im Kampf in Kurdistan um die Verhinderung eines Genozids, an dem auch die Bundesrepublik Deutschland beteiligt ist, geht. Es geht aber auch darum, eine wertvolle Alternative, eine gelebte Utopie; den demokratischen Konföderalismus, wie er in Rojava, aber auch in Orten Nordkurdistans, wie Amed (Diyarbakir), Nisêbîn (Nusaybin) oder Şirnex (Şırnak) aufgebaut wurde, zu verteidigen. Denn diese Alternative brauchen wir alle dringend.