Eren Keskin: Türkei wird über Fatwas regiert
Die Menschenrechtlerin Eren Keskin bezeichnet die Istanbuler Konvention gegen Gewalt an Frauen als ein Abkommen, das für Frauen wie ein Grundgesetz ist. Darauf zu verzichten, komme niemals in Frage.
Die Menschenrechtlerin Eren Keskin bezeichnet die Istanbuler Konvention gegen Gewalt an Frauen als ein Abkommen, das für Frauen wie ein Grundgesetz ist. Darauf zu verzichten, komme niemals in Frage.
Eren Keskin, Rechtsanwältin und Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, bezeichnet den in der Türkei zur Diskussion gestellten Ausstieg aus der Istanbul-Konvention als praktische und verbale Legitimierung von Gewalt an Frauen durch den Staat. Die Istanbuler Menschenrechtsanwältin hat sich gegenüber ANF zu den zunehmenden Angriffen der türkischen Regierung auf die erkämpften Errungenschaften von Frauen geäußert. Wie sie sagt, hat die Republik Türkei die Konvention zwar unterzeichnet, aber bis heute in keiner Weise umgesetzt.
Als konkretes Beispiel nennt Keskin die Justiz. Die Gerichte reagieren nicht darauf, wenn die Konvention als Referenz in Prozessen wegen frauenfeindlicher Gewalt vorgelegt wird. Viele Richter wüssten nicht einmal, dass eine solche Konvention existiert.
Dass Gewalt gegen Frauen systematisch straffrei bleibt, fasst Keskin so zusammen: „Bis 2005 war Gewalt an Frauen nicht einmal als Überschrift eines Abschnitts im Türkischen Strafgesetzbuch aufgeführt.“ Bei sogenannten „Ehrenmorden“ werde automatisch Strafminderung erteilt. Erst 2005 hätten Frauen eine Änderung erkämpft, aber diese Änderung im schriftlichen Recht habe niemals Anwendung gefunden.
Den herrschenden Ehrbegriff hinterfragt
Eren Keskin sagt, dass sich die Regierenden im Land daran stören, dass die Istanbuler Konvention den herrschenden Ehrbegriff hinterfragt: „In dem Abkommen heißt es, dass traditionelle Moralvorstellungen, Bräuche und die angebliche Ehre niemals als Begründung für Gewalt herhalten können. Die bei uns etablierten feudalen, patriarchalen und militaristischen Wertvorstellungen und der Ehrbegriff sollen hinterfragt werden.
Und das ist der Grund, warum der Staat der Republik Türkei seine Unterschrift unter der Konvention heute zurückziehen will. Die Familie soll so bleiben, wie sie ist. Innerhalb der Familie lassen sich die Menschen leichter gemäß der offiziellen Ideologie formen und damit kann das männlich dominierte System einfacher fortgesetzt werden. Innerhalb der Familien gibt es jedoch Gewalt. Diese Gewalt soll verschleiert werden und die ‚Heiligkeit der Familie‘ soll weiter Bestand haben.“
Istanbuler Konvention ist wie ein Grundgesetz für Frauen
Mit der Istanbul-Konvention ist gleichzeitig der auf dem gesellschaftlichen Geschlecht basierende Blickwinkel zur Diskussion gestellt worden, erinnert Eren Keskin. Aufgenommen wurden auch die Existenzrechte von LGBTI+-Individuen, und auch daran störe sich der Staat.
Laut der IHD-Vorsitzenden wird die Türkei zurzeit weder gemäß der eigenen Rechtssprechung noch entsprechend internationaler Abkommen regiert, sondern über Fatwas der Religionsbehörde Diyanet. Das mache die Zeit aktuell so schwierig. Eren Keskin unterstreicht, dass die Istanbuler Konvention für Frauen wie ein Grundgesetz ist, das sie für den Preis von Gewalt und Mord mit ihrem eigenen Blut erkämpft haben und niemals aufgeben werden.
Staatlich legitimierte Gewalt gegen Frauen
Zu dem vor allem in Kurdistan stattfindenden Anstieg von Belästigung, Vergewaltigungen und Angriffen auf Frauen und Mädchen erklärt Keskin, dass diese Gewalt nichts Neues ist. Durch die Entwicklung des Frauenkampfes und die Auswirkung der sozialen Medien sei Gewalt an Frauen sichtbarer geworden. Sie verweist darauf, dass sexuelle Angriffe auf Frauen und Kinder in Kurdistan insbesondere in den neunziger Jahren sehr verbreitet waren. Als Beispiel nennt sie die Provinz Êlih (türk. Batman). In den 1990er Jahren seien die vom Staat durchgeführten sexuellen Angriffe der einzige Grund für Frauenmorde und Selbstmorde gewesen.
Laut Eren Keskin ist dieses Problem keins der heutigen Zeit, sondern hat eine lange Vergangenheit. In allen Konfliktgebieten seien Frauen und Kinder die ersten Opfer von Gewalt. Gewalt wird vom Staat legitimiert, sagt Keskin und erinnert an den Innenminister, der sich mit dem Befehl zur Lynchjustiz gebrüstet hat. Diese staatliche Legitimierung treffe zuerst die Frauen.
Zuletzt betont Eren Keskin, dass der Frauenkampf einer der wesentlichen Kämpfe in der Region ist und es für Frauen undenkbar ist, auf ihre Rechte zu verzichten und ihren Kampf aufzugeben.