Gülüm: Gerichte weisen gewaltbetroffene Frauen ab

Die Istanbul-Konvention ist ein völkerrechtlich bindendes Instrument zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Seit Erdoğan per Dekret eine Rückzugsentscheidung getroffen hat, bauen immer mehr Männer ihre Hemmungen vor patriarchaler Gewalt ab.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat ein Dekret unterzeichnet, mit dem die Türkei verfassungswidrig aus der Istanbul-Konvention ausscheiden will. Das völkerrechtliche Abkommen wurde 2011 vom Europarat ausgearbeitet und soll einen europaweiten Rechtsrahmen schaffen, um Frauen vor Gewalt zu schützen. Die HDP-Abgeordnete und Rechtsanwältin Züleyha Gülüm befürchtet, dass viele Männer nun ihre Hemmungen verlieren könnten in der Annahme, einen Freifahrtschein für Gewalt zu haben. Seit der Rückzugsentscheidung am 20. März verzeichnet die Türkei nach Angaben von Frauenorganisiationen wieder einen erheblichen Anstieg von Femiziden, geschlechtsspezifischer Gewalt und Diskriminierung von LGBTIQ+.

Welche Auswirkungen hat die Entscheidung über den Rückzug aus der Istanbul-Konvention?

Der im Alleingang einer einzigen Person in einer Nacht- und Nebelaktion entschiedene, unberechtigte Austritt aus einem vor zehn Jahren per Gesetz in Kraft getretenen Vertrag ohne jegliche Rechtfertigung zeigt uns, dass in der Türkei nicht die Spur von Demokratie existiert. Die Entscheidung reflektiert die bittere Realität in diesem Land. Und wir alle wissen, dass sie keine verfassungsrechtliche Grundlage hat. Ein in der Nationalversammlung durch das Gesetz verabschiedeter internationaler Vertrag kann durch ein Präsidialdekret nicht gekündigt werden. Wir haben es hier jedoch mit einem Mann zu tun, der sich selbst Ermächtigungen erteilt und dann behauptet befugt zu sein, die Konvention zu beenden. So absurd ist der Punkt, an dem wir uns befinden. Dabei sind die Bestimmungen der türkischen Verfassung eindeutig. Die Ratifizierung internationaler Abkommen wird nicht der Exekutive eingeräumt, deshalb kann nur das Parlament mit einem Gesetz die Beendigung der Istanbul-Konvention einleiten. Darüber hinaus bestimmt Artikel 104 der Verfassung ausdrücklich, dass Grund- und Menschenrechte nicht per Dekret abgeschafft oder geregelt werden können. Zusammengefasst bedeutet das, dass die Rückzugsentscheidung aus der Istanbul-Konvention im Widerspruch zu nationalem Recht steht. Davon mal abgesehen und auch unabhängig davon, wer diesen Beschluss nun gefasst hat: Im Ergebnis ist es damit de facto der Staat, der direkt für Gewalt an Frauen, Verletzungen des Rechts auf Leben, Diskriminierung und Hassverbrechen verantwortlich ist.

Obgleich das Präsidialdekret wirkungslos ist wurde ein Prozess eingeleitet, als sei die Kündigung des Abkommens bereits unter Dach und Fach.

Das Dekret des Palastregimes hat eine beachtliche Anzahl an Einflussbereichen geschaffen. Der Rückzug aus der Konvention liefert uns einen Hinweis auf die frauenfeindliche und frauendiskriminierende Motivation der Herrschenden. Es handelt sich um eine politische Entscheidung, durch die eine Grundlage für die Legitimierung von Gewalt und Diskriminierung in der ohnehin in einem sehr hohen Maß von patriarchaler Gewalt und Geschlechterungleichheit betroffenen Türkei geschaffen werden soll. Männer, die Gewalt und Morde verüben und Sekten, für die Frauen nur zweitrangige Wesen sind, die kontrolliert und beherrscht werden müssten, haben die Rückzugsentscheidung aus der Istanbuler Konvention ausdrücklich begrüßt. Seit der Veröffentlichung [im Amtsblatt] ist die bereits sehr hohe Gewalt noch weiter angestiegen. Faktisch hat die Regierung mit ihrem Beschluss Männern den Weg zu Gewalt an Frauen und Diskriminierung geebnet.

Eine große Rolle bei der Entscheidung für den Austritt aus der Konvention spielt auch der tief sitzende Hass gegenüber LGBTIQ+ (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transpersonen, Intersexuelle, Queers). Indem die Regierung die soziale Ungleichheit der Geschlechter leugnet und LGBTIQ+ zur Zielscheibe von Hass und Gewalt macht, verstärkt sie die ohnehin bestehenden Verletzlichkeiten der am meisten von Diskriminierung betroffenen Gruppen. Derweil wird behauptet, man wolle auf innerstaatlicher Ebene Maßnahmen zur Bekämpfung und Prävention von Gewalt gegen Frauen ergreifen, weil die nationale Gesetzgebung ausreichend sei.

Ist die denn ausreichend?

Niemand findet diese Aussagen glaubwürdig, selbst die Regierung nicht. Noch während die Diskussionen um einen Rückzug aus dem Schutzabkommen andauerten, hatten Polizei und Gerichte bereits damit begonnen, Anträge für einstweilige Verfügungen von gewaltbetroffenen Frauen abzulehnen. Seit Bekanntwerden der Austrittsentscheidung werden Frauen von den Revieren direkt an die Familiengerichte verwiesen. Aus dem Gesetz Nr. 6284 etwa ergibt sich, dass die Polizei weitgreifende Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt ergreifen muss und die in Polizeistationen eingerichteten Sondereinheiten im Bereich der häuslichen Gewalt verpflichtet, aktive Arbeit zu leisten. In der Realität sieht es aber so aus, dass entsprechende Anträge überhaupt nicht mehr angenommen werden. Das Gleiche spielt sich bei den Familiengerichten ab. Wähend Frauen mit häuslicher Gewalterfahrungen vor dem Rückzug aus der Istanbul-Konvention bei diesen Gerichten noch einstweilige Verfügungen gegen ihre Peiniger erwirken konnten, werden sie jetzt abgewiesen. Zuletzt hatte ein Familiengericht in Ankara den Antrag einer von Gewalt betroffenen Frau mit der Begründung, es gebe keinen Hinweis auf Gewalt, verworfen. Mit anderen Worten bedeutet das, Frauen sollen sich erst an die Gerichte wenden, nachdem sie Gewalt erfahren haben und diese auch offensichtlich ist. Dabei soll Gesetz Nr. 6284 wie ein Schutzmantel wirken und geschlechtsspezifische Gewalt verhindern. Es garantiert Frauen sofortige und notwendige Leistungen (wie etwa Schutz in einem Frauenhaus, temporären Schutz durch Begleitungen, finanzielle Unterstützung und eine Krankenversicherung, ein Näherungs- und/oder Kontaktverbot, ANF) ohne Einholung von Beweisen oder Bestätigungen. Trotzdem handeln die Gerichte nicht gesetzeskonform, sondern orientieren sich bei Entscheidungsfindungen an der Haltung der politischen Macht.

Viele Männer glauben inzwischen, dass Gewalt gegen Frauen nicht sanktioniert wird. In digitalen Netzwerken bedrohen sie Frauen und LGBTIQ+, verbreiten gedrehte Gewaltvideos. Männer, die wegen Gewaltverbrechen an Frauen bereits verurteilt sind fragen, ob ihre Strafen nun reduziert werden. Sie glauben, Freifahrt für häusliche Gewalt zu haben.

Aber das Gesetz Nr. 6284 ist doch Teil der nationalen Gesetzgebung?

Ja, ist es. Das „Gesetz über den Schutz der Familie und die Verhütung der Gewalt an Frauen” ist nach der Ratifizierung der Istanbul-Konvention erlassen worden. Selbst wenn die Rechtsnormen des Gesetzes in der Praxis nicht ausreichen, um die Anforderungen aus dem Abkommen umzusetzen, sind Frauen von seinem Schutzbereich erfasst. Durch Erweiterungen enthält Nr. 6284 heute in der Theorie noch weitgreifendere Maßnahmen als noch in der ersten Fassung des Gesetzes. Beispielsweise müssen Frauen für eine Inanspruchnahme von Maßnahmen wie Schutz in einem Frauenhaus, temporärem Schutz durch Begleitungen, eine einstweilige Verfügung oder finanzielle Unterstützung nicht mehr zwingend verheiratet sein. Es wurden der Notfallknopf KADES (Die mobile App KADES kann Alarm auslösen, sobald sich eine Frau in Gefahr befindet oder Gewalt ausgesetzt ist. Im Notfall wird die gefährdete Person mithilfe von GPS geortet) und die Regel, dass es in jeder Stadt ein Frauenhaus geben muss, eingeführt. Alle diese Maßnahmen sind erkämpfte Errungenschaften, die sich aus der Istanbul-Konvention ergeben. Fällt dieser Pfeiler weg, wird das den Männern zugeneigte Justizsystem beim Schutz von Frauen vor Gewalt noch weniger opferorientiert handeln, als es jetzt schon der Fall ist, und restlos von der Politik dominiert.

Aber ein Rückzug aus der Istanbul-Konvention, die weiterhin gültig ist, setzt ja Verpflichtungen gegenüber anderen internationalen Veträgen zum Schutz von Frauen nicht außer Kraft. Das Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) etwa ist von der Türkei ebenfalls ratifiziert worden wie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Auch diese Übereinkommen erfordern einen wirksamen Schutz vor Ungleichheit und Diskriminierung der Geschlechter. Dennoch werden wir Frauen die Istanbul-Konvention, die unser Recht auf Leben und die rechtliche Gleichstellung von Frauen und Männern am besten schützt, nicht aufgeben.  

Unser Kampf um die vollständige und wirksame Umsetzung des Abkommens wird fortgesetzt. Wir wissen nur zu gut, dass es nicht möglich ist, Gewalt zu verhindern, solange Geschlechtergerechtigkeit aufrechterhalten bleibt und eine echte Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Lebensbereichen nicht existiert. Die Istanbuler Konvention ist eine wichtige Errungenschaft im Kampf um die Beendigung der männlichen Herrschaft, die die historische Quelle von Gewalt darstellt. Deshalb werden wir unseren Widerstand gegen frauenfeindliche Entscheidungen weiterführen und die Verteidigung von erkämpften Frauenrechten verstärken.