Gulistan Tara: Das System hat Angst vor uns

„Wir versehen das Patriarchat mit Löchern, bis es in sich zusammenfällt. Das System hat Angst vor uns“, sagte die kurdische Journalistin Gulistan Tara bei Jin TV in Rojava einer feministischen Delegation aus Deutschland.

Türkische Drohnenmorde an kurdischen Journalistinnen

Die kurdischen Journalistinnen Gulistan Tara und Hêro Bahadîn sind am 23. August 2024 bei einem gezielten Drohnenangriff der Türkei in der Kurdistan-Region im Irak getötet worden. Sechs weitere Medienschaffende wurden bei dem Angriff in der Nähe von Silêmanî verletzt.

Hêro Bahadîn stammte aus Silêmanî und arbeitete als Redakteurin für die Produktionsfirma CHATR. Sie wurde 27 Jahre alt. Gulistan Tara ist in Êlih (tr. Batman) in Nordkurdistan geboren. Sie arbeitete seit 2000 als Journalistin und war seit drei Jahren politische Beraterin für TV-Berichte von CHATR Production. Vorher war sie an verschiedenen Orten für freie kurdische Medien tätig, so auch für den Frauensender Jin TV in Rojava/Nordsyrien.

Gulistan Tara arbeitete 24 Jahre als Journalistin

Jin TV wird komplett von Frauen organisiert und ist zum Internationalen Frauenkampftag 2018 gegründet worden. Vor einem Jahr wurde ein Fahrzeug von Jin TV in Rojava von einer türkischen Drohne bombardiert. Der Fahrer Necmeddîn Feysel Hec Sînan wurde getötet, die Korrespondentin Delîla Egîd erlitt schwerste Verletzungen. Ihr linker Arm wurde zerfetzt und musste in einer Notoperation amputiert werden.

Aktivistinnen von „Gemeinsam Kämpfen“ aus Deutschland haben die Autonomieregion Nord- und Ostsyrien für ein Buchprojekt besucht und bei Jin TV auch Gulistan Tara kennengelernt. Sie sagen, dass die Journalistin sehr viel Klarheit und Entschlossenheit ausstrahlte. Das 2018 mit ihr geführte Interview wurde von dem Herausgeber:innenkollektiv des Andrea Wolf Instituts in dem Buch „Wir wissen was wir wollen. Frauenrevolution in Nord- und Ostsyrien“ veröffentlicht und aus aktuellem Anlass für ANF zur Verfügung gestellt.

Wir wollen ein Sprachrohr der weltweiten Frauenkämpfe sein

Wie ist JIN TV entstanden und welche Ideen stecken dahinter?

Gulistan Tara: JIN TV berichtet über Kämpfe von Frauen weltweit, nicht nur der kurdischen. Das ist die Bedeutung, die wir diesem Fernsehen beimessen, das ist unser Ziel.

Das Fernsehen nimmt Bezug auf Frauen wie Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Emma Goldman, Jeanne d’Arc, Sakine Cansız und Frauen in Lateinamerika, die ermordet wurden – ihre Gedanken und Kämpfe sind Wege zur Befreiung. Wir wollen das Sprachrohr dieser Kämpfe sein und sie lebendig machen. Nicht nur in Nord- und Ostsyrien, sondern auch in Europa können wir sagen: Alle Fernsehsender und Medienbereiche verfolgen eine bestimmte Richtlinie, Sendepolitik und Ausrichtung. Unsere Linie ist die der Frauenbefreiung. Wir stehen für Ökologie, für ein freies gesellschaftliches Zusammenleben, für die Freiheit der Geschlechter. Wir haben sie gemeinsam mit den Journalistinnen in Europa festgelegt. Wir wollen zur Stimme und Farbe jener Frauen werden,die sonst nicht gesehen werden, die verloren gegangen sind und die nicht gehört werden.

Unser Ziel ist es, alle Frauen zusammenzubringen. Alle sind Teil unserer Programme, auch liberale Frauen oder Frauen von der KDP. Wir geben auch ihnen eine Stimme. Wir wollen auch die Schwierigkeiten und Widersprüche aufzeigen. Doch wir haben Grundsätze. Das Fernsehen ist auch nicht allein ein Fernsehen der Kurdinnen. Wir schließen alle Farben, alle Sprachen, alle Kulturen mit ein.

Wie ist das Fernsehen aufgebaut und welche Programme gibt es?

Einige Mitarbeiterinnen sind gerade noch in der Ausbildung. Von ihnen abgesehen sind wir 16 Frauen. In der Zukunft, wenn wir mehr Programme haben, wollen wir mehr werden. Auch wenn Frauen die Basis unserer Programme bilden, wollen wir, dass auch Männer sprechen. Männer sind ja Teil des herrschenden Systems, sie sollten selbstkritisch sein. Auch für die Veränderung von Männern haben wir Programme geplant. Wir bereiten sie vor, doch bisher werden sie noch nicht gesendet. Wir wollen, dass die Kraft der Frauen endlich sichtbar wird. Daher beginnen wir bald mit unserem Jineolojî-Programm und mit Programmen zu Jugend, Kultur und Gesundheit.

Wir leben in einem Land, in dem Krieg herrscht. Die Angriffe und Drohungen gegenüber Frauen beeinflussen das Leben sehr. Daher wollen wir auch Sendungen über die YPJ machen.Wir wollen das System darstellen, das auf der Basis des Willens der Frauen aufgebaut wird. Welche Schwierigkeiten gibt es noch in der Praxis? Zum Beispiel, wie viel Gewalt sind Frauen monatlich oder jährlich ausgesetzt? Wie viele Frauen werden ermordet? Wir kritisieren und geben zugleich eine Perspektive auf ein befreites Leben. Dieses Fernsehen bildet Frauen. Es weckt auf und vermittelt Wissen.

An welchen Orten gibt es JIN TV?

In Bakur und in der Türkei gibt es Teams von JIN TV, in den Bergen Kurdistans, teilweise auch in Rojhilat, in arabischen Städten und in Başûr. Wir wollen auch anfangen, in arabischen Ländern und im Iran zu arbeiten. Noch ist nicht die Zeit dafür, uns fehlen die notwendigen Kapazitäten. Ein Teil unserer Arbeit wird in Europa gemacht. Es gibt auch Schwierigkeiten, zum Beispiel in der Türkei: Der türkische Staat übt viel Druck auf uns aus. Gerade haben sie drei Verfahren gegen unser Frauenfernsehen eröffnet. Die Regierung in Başûr hat angedroht, Teams, die für JIN TV arbeiten, zu verhaften. Auch in Europa gibt es Repression. Warum werden Frauen als eine solche Bedrohung wahrgenommen? Weil wir etwas verändern.

Wenn wir mit JIN TV Frauen auf der ganzen Welt erreichen, dann wird das Fernsehen zu einer Kraft für die Frauen dieser Welt. Bei JIN TV sprechen die Frauen verschiedene Sprachen, zum Beispiel auch Deutsch oder Englisch. Vielleicht sind es noch wenige, aber immerhin. Wir hoffen, dass auch in Deutschland, England oder Amerika Frauenmedien und -fernsehsender auf der gleichen Basis aufgebaut werden.

Wir versehen das System und das Patriarchat mit Löchern, bis es in sich zusammenfällt. Denn die Löcher bringen die Stabilität ins Wanken und irgendwann die Herrschaft zu Fall. Deshalb wird das Frauenfernsehen angegriffen. Aus diesem Grund müssen wir dem Frauenfernsehen viel Wert und Bedeutung beimessen. Das System hat Angst vor uns.