Disziplinarverfahren wegen Liedern in „unverständlicher Sprache“

In Elazığ inhaftierte Gefangene sehen sich einem willkürlichen Disziplinarverfahren ausgesetzt. Wegen „Tanz und Gesang in einer unverständlichen Sprache“ – gemeint ist Kurdisch, wird gegen neun Frauen ermittelt. Eine von ihnen ist Leyla Güven.

Die Gefängnisleitung der Frauenvollzugsanstalt in Xarpêt (tr. Elazığ) hat Disziplinarverfahren gegen neun Insassinnen eingeleitet. Unter den Gefangenen befinden sich namhafte Persönlichkeiten aus der Politik, darunter die KCD-Vorsitzende Leyla Güven, die Chefin der HDP-Amed, Hülya Alökmen Uyanık, und die stellvertretende ESP-Vorsitzende Fethiye Ok Çiçek. Ihr Vergehen: Tänze, die begleitet worden sein sollen von Gesang in einer „unverständlichen Sprache“. Zudem hätten die Frauen „die Berge und Apo verherrlichende Parolen“ vorgetragen. Mit der unverständlichen Sprache ist das Kurdische gemeint. Wie das alles dennoch so genau verstanden worden sein soll, ist derweil unklar.

Direktor wird gerufen - Frauen singen lauter

Der Vorfall trug sich laut dem Protokoll des Gefängnispersonals am 15. August im Block D zu. „Um 19.30 Uhr haben die diensthabenden Wärter oberhalb des Zellenblocks Geräusche vernommen. An den Zellentüren ist festgestellt worden, dass Hülya Alökmen Uyanık, Beritan Anahtar, Emine Erkan, Nuray Çelik, Dicle Bozan, Fethiye Ok Çiçek, Leyla Güven, Mihriban Şorli und Remziye Yaşar trällerten und begleitet von Gesängen in einer nicht verständlichen Sprache tanzten. Darüber hinaus skandierten sie ‚Guerilla‘ und ‚Apo‘ und trugen einen Marsch mit dem Text ‚Wir brennen wie Flammen vom Geruch der Berge, die Fremden sollen uns kennen und hören‘ vor.“ Daraufhin seien die Gefangenen mündlich verwarnt worden, hätten das beanstandete Benehmen aber fortgesetzt. Als der Direktor der Vollzugsanstalt schließlich hinzugerufen wurde, seien die Frauen „noch lauter“ geworden. Zu allem Überfluss hätten sich dann auch noch die Insassinnen des darunterliegenden Zellentrakts an dem „disziplinarischen Fehlverhalten“ beteiligt.

‚Freiwilliger Verzicht auf Gefangenenrechte‘

Ob sich Leyla Güven und ihre Mitgefangenen zu den Vorwürfen geäußert haben, ist bislang nicht bekannt. Die Gefängnisleitung gab den Frauen drei Tage lang Zeit, eine schriftliche Verteidigung einzureichen. Sollten sie der Aufforderung innerhalb der gesetzten Frist nicht nachkommen, würde dies bedeuten, dass sie freiwillig auf ihre Rechte verzichtet hätten. An Absurdität ist die türkische Justiz wohl kaum noch zu überbieten. 

Wer ist Leyla Güven?

Leyla Güven befindet sich seit dem 21. Dezember 2020 im Gefängnis. An diesem Tag wurde die 57-Jährige von einem Gericht in Amed (Diyarbakir) wegen vermeintlicher PKK-Mitgliedschaft zu einer Freiheitsstrafe von 22 Jahren und drei Monaten verurteilt worden. In der Person Leyla Güvens stilisierte das Gericht in seinem Urteil die matriarchale Frühgeschichte der Völker Mesopotamiens zum Feindbild für die Sicherheit des türkischen Staates. Im Juni wurde die Haftstrafe bestätigt. 

Leyla Güven ist nicht zum ersten Mal im Gefängnis. 2009 wurde sie im Rahmen der international kritisierten „KCK-Operationen” verhaftet und kam erst nach fünf Jahren wieder frei. Zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung war sie Bürgermeisterin der kurdischen Stadt Wêranşar (Viranşehir). Im Januar 2018 wurde Güven erneut in Untersuchungshaft genommen, diesmal wegen ihrer Kritik am Angriffskrieg gegen Efrîn. Damals erlangte sie auch internationale Bekanntheit, als sie im November des selben Jahren eine 200-tägige Hungerstreikbewegung für die Aufhebung der Isolationshaftbedingungen für den seit 1999 auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten PKK-Gründer Abdullah Öcalan initiierte.

Im Juni 2020 wurde Leyla Güven erneut verhaftet, nur wenige Stunden nachdem das Parlament in Ankara ihnen ihr Mandat und damit auch ihre Immunität entzogen hatte. Als Begründung wurde das inzwischen rechtskräftige Urteil im KCK-Verfahren herangezogen.