Letztes Jahr am 1. Mai stach der Ex-Mann von Meryem S. in Hamburg auf sie und ihre beiden Kinder ein. Er zündete Meryem und die gemeinsamen Kinder an. Sie überlebten schwer verletzt und kämpfen für Gerechtigkeit. Seit Mitte November muss sich der Täter vor Gericht verantworten.
Leider sind solche Taten kein Einzelfall: In Deutschland gibt es jeden Tag einen Tötungsversuch an einer Frau. Und jeden dritten Tag gelingt der auch. Allein in Hamburg und Umland sind in diesem Jahr bereits sechs Frauen getötet worden. Sechs tote Frauen – und wir haben gerade mal Mai! Und die Zahl der Vergewaltigungen, Nötigungen und sexuellen Übergriffe in besonders schwerem Fall stieg um 35,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Um zehn Prozent stieg die Anzahl der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Die der schweren Sexualdelikte stieg um 3,9 Prozent. Die Zahl der Opfer von Partnerschaftsgewalt ist im Vergleich zum Vorjahr um neun Prozent gestiegen. Und, wenig überraschend: Während der Corona-Pandemie sind die Zahlen bei Gewalt gegen Frauen nochmal erheblich gestiegen, erreichen in der jüngsten Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) ihren höchsten Stand seit zehn Jahren. Und dabei deckt die PKS nur das „Hellfeld” ab - also die zur Anzeige gebrachte Straftaten. Wir können sicher sein, dass das Dunkelfeld noch wesentlich höher ist. Opfer von häuslicher Gewalt trauen sich nämlich viel zu oft gar nicht erst, den Täter anzuzeigen – aus Angst vor noch mehr Gewalt. Die Tötung von Frauen ist in Deutschland keine neue Entwicklung. 2019 sind 267 Frauen in Deutschland getötet worden, weitere 542 haben die Tötungsversuche überlebt. Im Jahr 2018 waren 367 Frauen Opfer einer gewaltsamen Tötung, im Jahr 2017 sogar 380.
Wichtige Kategorien fehlen
Dies sind die offiziellen Zahlen aus der PKS der Kategorien Mord (§ 211 StGB), Totschlag (§ 212 StGB) und Körperverletzung mit Todesfolge (§§ 227, 223 StGB). Es ist anzunehmen, dass diese Zahlen nicht das gesamte Ausmaß von tödlicher Gewalt gegen Frauen umfassen. In den genannten Zahlen fehlen zum Beispiel die Kategorien Brandstiftung mit Todesfolge und fahrlässige Tötung, obwohl sich darunter auch Morde oder Mordversuche befinden können, die aber nicht als solche erkannt und ausgewiesen wurden. Gleiches gilt für Vorfälle, bei denen die Todesursache ungeklärt ist oder falsche Annahmen vorliegen.
Nicht „Ehedrama“ oder „Partnerschaftsstreit“, sondern Femizid
Dieser Trend ist katastrophal. Dennoch wird das Phänomen viel zu oft kleingeredet und kleingeschrieben. Da steht dann in den Schlagzeilen sowas wie „Ehedrama“, „Eifersuchtsdrama“ oder „Partnerschaftsstreit“. Dabei haben all diese Floskeln eines gemeinsam: Sie verharmlosen und verschleiern die strukturelle Gewalt gegen Frauen. Und, noch viel schlimmer: Sie geben dem Opfer eine Art Mitschuld. Darum müssen wir das Problem endlich beim Namen nennen: Diese Taten sind Femizide! „Femizid” steht für die Tötung von Frauen, weil sie Frauen sind. Der Begriff verharmlost nicht und er verdeckt auch nicht die mörderische, die strukturelle Gewalt gegen Frauen. Um einen Femizid handelt es sich etwa, wenn eine Frau von ihrem Partner getötet wird, weil sie ihn verlassen hat. Wenn sie vergewaltigt und anschließend umgebracht wird. Wenn Familienmitglieder ihre Töchter oder Schwestern umbringen, weil sie eigene Entscheidungen treffen wollten. Und bedrückend oft steht die Tötung der Frau am Ende einer langen, gewaltvollen Geschichte. Klar muss auch sein, dass niemand aus Liebe tötet. Die Begründung Eifersucht und Liebe ist weit verbreitet, genau wie in der Türkei die patriarchalische Besitzergreifung romantisiert wird als „Ya benimsin, ya kara toprağın” („Entweder gehörst du mir oder der finsteren Erde”). Das Patriarchat tötet. Das zeigt sich weltweit täglich. Frauen werden getötet weil sie Frauen sind, aus Frauenhass, Frauenverachtung oder männlichen Dominanzstreben.
Cansu Özdemir ist Ko-Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE in der Hamburgischen Bürgerschaft
Allgemeine Abwertung und Unterdrückung von Frauen
Mehr noch: All diese Taten passieren vor dem Hintergrund einer allgemeinen Abwertung und Unterdrückung von Frauen. Es ist ein mit Gewalt aufgeladenes System, das die Ungleichbehandlung und eben auch ein hierarchisches Geschlechterverhältnis aufrechterhält. Und eine Erkenntnis fürs Stammbuch „besorgter” Bürger:innen: Gewalt gegen Frauen wird viel eher als Problem anerkannt, wenn sie sich vermeintlich religiösen und ethnischen Minderheiten zuordnen lässt. Dabei gibt es diese Gewalt in allen gesellschaftlichen Gruppen. Und sie muss überall bekämpft werden. Die Bundesregierung kritisiert die Türkei für die Aussetzung der Istanbul-Konvention, weigert sich aber, Femizide anzuerkennen und ihre eigenen patriarchalen Denkmuster und Strukturen zu bekämpfen. Das führt in der Konsequenz dazu, dass keine gezielten Maßnahmen zur deren Bekämpfung ergriffen werden.
Weder das jährliche Lagebild zu Gewalt in Partnerschaften noch die PKS erfassen Formen, Situationen und Risikomomente von Femiziden. Ohne Erhebung der Tatmotive und der genauen Umstände der Tötungsdelikte, bleibt die genaue Anzahl der Femizide unbekannt und es können keine gezielten Schutz- und Präventionsmaßnahmen ergriffen werden. Die Frauenhäuser und die Beratungs- und Anlaufstellen für von Gewalt betroffene Frauen bleiben weiterhin unterfinanziert. 16.000 Frauen finden jedes Jahr Zuflucht in den Frauenhäusern – doppelt so viele Plätze werden gebraucht.
Kurz gesagt, Deutschland hat die Istanbul-Konvention unterzeichnet aber setzt sie nicht ausreichend um. Deutschland möchte eine Vorreiterrolle im Kampf gegen geschlechtsbezogene Gewalt einnehmen, tut aber nichts dafür. Viele in Deutschland denken bei Femiziden - soweit sie mit dem Begriff überhaupt etwas anfangen können - ausschließlich an die Taten in Mexiko, wo Frauen entführt, vergewaltigt, getötet und verstümmelt werden. Oder an die Türkei.
Keine breite Mobilisierung gegen Femizide in Deutschland
Während in den letzten Monaten in anderen Ländern tausende Menschen auf den Straßen gegen Femizide protestiert haben, ist eine breite Mobilisierung für das Thema in Deutschland bisher nicht gelungen. Auch das deutsche Rechtssystem verkennt die strukturelle Dimension, die hinter der Ermordung von Frauen steht. Tötungsdelikte an Frauen, insbesondere wenn das Motiv die Trennungsabsicht der Frau oder eine bereits vollzogene Trennung ist, werden häufig nur als Totschlag oder gar ausschließlich als Körperverletzung mit Todesfolge und nicht als Mord eingestuft.
Das ist eine Auslegung, die auf eine Verharmlosung geschlechtsbezogener Gewalt hindeutet. Denn: Frauen müssen im Falle einer Trennung um ihr Leben fürchten, Männer nicht. In vielen Fällen sind Richter nachsichtig und verurteilen die Täter wegen Totschlags, worauf bis zu zehn Jahre Haft stehen. Es kommt vor, dass der Richter die emotionale Notlage des Angreifers als mildernden Umstand auffasst. Wobei damit ausgedrückt wird, dass der Angreifer sich selbst Schaden zufügt, indem er in hilfloser Eifersucht die Frau tötet, die er liebt.
Viele Richter beziehen sich in ihrer Argumentation auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2008. Das Gericht stellte damals in einem Trennungstötungsfall weder Heimtücke noch niedere Beweggründe fest - beides Voraussetzungen, um ein Urteil wegen Mordes auszusprechen. Stattdessen befand das Gericht, dass „die Trennung von dem Tatopfer ausging und der Angeklagte durch die Tat sich dessen beraubt, was er eigentlich nicht verlieren will”. Diese Formulierung manifestiert eine Form der Opferbeschuldigung. Der Deutsche Juristinnenbund fordert konkret: Wenn ein Mann seine Partnerin oder Expartnerin tötet, weil diese ihn verlassen will oder schon verlassen hat, dann sollte das als Mord gewertet werden. Denn er handelt aus einem geschlechtsbezogenen Motiv des Besitzanspruches heraus und das verletzt die menschliche Würde. Im Grunde das selbe Prinzip wie im Fall der sogenannten Ehrenmorde, wenn Mädchen oder Frauen von ihren Verwandten umgebracht werden, weil sie scheinbare Unehre über die Familie gebracht haben. Patriarchalische Besitzansprüche würden in beiden Fällen gelten: bei Ehrenmorden und bei der Tötung eines Partners aus Eifersucht. Die Rechtsprechung in Deutschland ordnet Ehrenmorde in einen anderen sozialen Kontext ein und bestraft in diesen Fällen härter. Häusliche Gewalt ist keine Frage der Religion, Nationalität oder Bildung. Jeder ist angehalten hinzuschauen und Hilfe anzubieten, statt zu sagen, das ist eine Familienangelegenheit, da halte ich mich raus.
Gewalt gegen Frauen klar benennen
Um Gewalt an Frauen zu beenden, muss sie klar benannt, untersucht und bekämpft werden. Femizide müssen genau definiert und durch eine unabhängige Beobachtungsstelle („Femicide Watch“) erfasst werden. Dieser Vorschlag von uns wurde im Bundestag abgelehnt, ist aber immer noch eine aktuelle Forderung der LINKEN und auch der feministischen Aktivist:innen. Auch in Hamburg haben wir einen Antrag gestellt, um eine solche Beobachtungsstelle einzurichten.
In anderen Ländern gibt es etwa an akademische Institute angegliederte oder von feministischen NGOs betriebene „Femicide Observatories“ oder „Femicide Watches“. Zu den Aufgaben der Beobachtungsstelle muss neben umfangreicher Datenerhebung auch die Forschung gehören, die die Bedeutung von Risikomomenten berücksichtigt, damit gezielte Maßnahmen zur Verhinderung von Femiziden entwickelt werden können. Ein wirksamer Gewaltschutz ist die Stärkung der Autonomie von Frauen. Eine eigene Wohnung und ökonomische Unabhängigkeit sind wichtige Grundlagen, um ein Leben frei von Gewalt und Unterdrückung zu führen. Der Wohnungsmangel nicht nur in den Großstädten betrifft auch bereits von Gewalt betroffene Frauen; deshalb müssen neben ausreichend Plätzen in Frauenhäusern auch Wohnungen für Gewaltopfer bereitgehalten werden, solange es keinen bezahlbaren Wohnraum für alle gibt. Neben der individuellen Unterstützung von Frauen ist es wichtig, die gesamtgesellschaftlichen Strukturen zu verbessern hin zu einer geschlechtergerechten Gesellschaft.
Keine Frau darf mehr Opfer von Gewalt werden
Doch auch jetzt schon gibt es die Chance, Frauen besser zu schützen. Die laufenden Hamburger Haushaltsberatungen sind eine gute Gelegenheit, um die personellen und finanziellen Ressourcen der Hamburger Frauenhäuser und der Anlauf- und Beratungsstellen vernünftig aufzustocken. Wir werden Anträge einbringen, in denen wir die finanzielle Aufstockung des Opferschutzes fordern werden. Darunter die finanzielle Aufstockung der Frauenhäuser und der Beratungs- und Anlaufstellen.
Was am 8. März und 25. November gilt – und auch an den 364 anderen Tagen des Jahres: Keine Frau darf mehr Opfer von Gewalt werden!