Akbulut berichtet vom Widerstand ihrer Kollegin Timtik

Die Vorsitzende des Istanbuler Büros der linken Anwaltsvereinigung ÇHD, Çiğdem Akbulut, berichtet über den Hungerstreik von Ebru Timtik. Die Juristin war vor einem Jahr nach 238 Tagen „Todesfasten“ an Herzversagen verstorben.

Am Freitag jährt sich der Tod von Ebru Timtik. Die Rechtsanwältin starb am 27. August 2020 nach drei Jahren in türkischer Haft und einem 238-tägigen „Todesfasten“ an Herzversagen. Mit dem Hungerstreik hatte sie ein gerechtes Verfahren gefordert. Zusammen mit anderen Anwält:innen der Kanzlei „Rechtsbüro des Volkes“ (HHB), darunter auch ihrer Schwester Barkın, war Ebru Timtik im September 2017 verhaftet und zwei Jahre später wegen Terrorvorwürfen zu einer dreizehneinhalbjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Ihr wurden aufgrund von widersprüchlichen Aussagen eines Kronzeugen Verbindungen zur DHKP-C zur Last gelegt, die in der Türkei als Terrororganisation gilt. Drei Wochen nach ihrem Tod hob der türkische Kassationsgerichtshof das Urteil gegen sie auf. Im ANF-Interview erinnert die Anwältin Çiğdem Akbulut an ihre Freundin, Genossin und Kollegin.

Es ist nun ein Jahr seit dem Tod von Ebru Timtik vergangen. Könnten Sie uns etwas über ihren Kampf im Hungerstreik erzählen?

Zu dieser Zeit im letzten Jahr wachten wir jeden Tag auf, um diesen Tag zum letzten Tag für Ebru und Aytaç im Krankenhaus, das für sie zum Gefängnis geworden war, zu machen. Es ist traurig, dass wir das nicht geschafft haben. Während des 238-tägigen Hungerstreiks sprach Ebru über die große gesamtgesellschaftliche Notwendigkeit des von ihr geforderten Rechts auf ein faires Verfahren. Dutzende von Anwält:innen, Vorsitzende von Anwaltskammern und Journalist:innen aus der Türkei und der ganzen Welt wurden vor den Augen ihrer Mandant:innen und ihren Familien ihrer Freiheit beraubt. In diesen Verfahren wurde sogar das bürgerliche Recht liquidiert. Ebru und Aytaç waren nicht die einzigen. Bei der Bekanntgabe ihres Hungerstreiks erklärten sie, dass sie Gerechtigkeit für ihre Mandant:innen und alle anderen Menschen in einer ähnlichen Situation forderten. Deshalb haben wir 238 Tage lang versucht, jeden Tag die Stimme für ihre gerechtfertigten Forderungen und deren Gründe zu erheben. Wir haben uns an viele Menschen gewandt, wir haben von einem großen Publikum Zustimmung bekommen, aber wir konnten mit ihren sehr einfachen Forderungen, nämlich, dass sich der Staat an seine Gesetze hält, nicht zu den politisch Verantwortlichen durchdringen. Am Ende hat die Justiz nicht die Entscheidung getroffen, die sie hätte treffen müssen.

Ihre Freund:innen und ihre Familie wie auch viele Institutionen waren jede Woche auf der Straße. Hat sich nach einem Jahr etwas geändert?

Unsere Freund:innen sind bis heute in Haft. Unser Vorsitzender ist in Haft. Es ist schon tragikomisch, dass er beschuldigt wird, die Familien der Minenarbeiter von Soma vertreten zu haben. In der Akte wurde ernsthaft gefragt, warum mit dem Fall ein Anwalt betraut war. Heute ist keiner der Minenbetreiber, die für Soma verantwortlich sind, in Haft, aber der Anwalt, der die Angehörigen der Opfer vertritt. Ob sich etwas geändert hat? Das Tag für Tag praktizierte Unrecht, die Rechtsbeugung nimmt massiv zu, aber auch die Wut des Volkes. Die Wut wächst und verändert sich. Wir sprechen von einer Justiz, die ihre Unabhängigkeit verloren hat. Wir sprechen über eine politische Macht, die sie kontrolliert. Wir sprechen von Staatsanwälten, die im Sinne der Willkür dieser Macht handeln oder sich passiv verhalten. Als Anwält:innen, die Teil dieses Kampfes sind, wächst auch unsere Wut, wenn wir mit ihnen konfrontiert sind. Alles liegt ganz offen. Wir werden Ebru nie zurückbekommen, aber wir versuchen, den Anwaltsberuf dort weiter aufzubauen, wo sie in ihrem Kampf für die Freiheit der Rechte aufgehört hat. Wenn sie heute noch am Leben wäre, würde Ebru Tränen aus Blut um die Wälder weinen, die für den Profit des Kapitals abgebrannt werden. Sie würde zu den Menschen in diesen Regionen eilen. Sie würde ihre Schmerzen teilen und mit ihnen trauern. Sie würde ihnen sagen, dass dieses Massaker nicht als Naturkatastrophe abgetan werden kann. Das ist es, was wir an ihrer Stelle versuchen. Denn es muss sich ändern. Sie glaubte an die Veränderung.

Was sagt ein Streik für das Recht auf ein gerechtes Urteil insbesondere von einer Anwältin über das Justizsystem der Türkei aus?

Die Tatsache, dass Ebru Timtik in den Hungerstreik für ein gerechtes Urteil treten musste, verkörpert den Zustand des Justizsystems. Wer glaubt, dass bevor sie sich zum Hungerstreik entschied, nichts getan worden sei, liegt falsch. Es wurden Anträge gestellt, es wurden Widersprüche eingelegt, es wurden Erklärungen abgegeben und Aktionen durchgeführt, die deutlich machten, dass das Urteil in jeder Hinsicht auf der Grundlage von politischen Motiven gefällt worden war. Dies wurde auch durch die Beweislage gestützt. Das Gericht konnte keine vorlegen, aber wir haben es getan. Es gab zahlreiche Anträge von Kolleg:innen aus dem Ausland, die den Prozess auf internationaler Ebene verfolgt haben und gesehen haben, was passiert ist und erschüttert waren. Wie wir immer betont haben, stand in diesem Verfahren der Anwaltsberuf auf dem Spiel. Unsere Kolleg:innen wurden wegen ihrer Mandant:innen beschuldigt. Sie wurden beschuldigt, weil sie sie vertraten. Es wurden Aussagen eines verleumderischen Kollaborateurs als geheimer Zeuge produziert und auf dieser Grundlage viele Menschen aus den verschiedensten Teilen der Gesellschaft verurteilt. Der Kampf von allen, von dem Standpunkt an dem sie sich befanden, war dennoch unzureichend. Ihre Stimme wurde nicht gehört. Sie sah sich gezwungen, diesen Weg zu gehen, um aus der Gefangenschaft heraus, dieses tief im System verankerte Unrecht offenzulegen.

Meine persönliche Geschichte ist voller Ungerechtigkeiten“, schrieb sie in einem Brief. Wie würden Sie Ebru Timtik beschreiben und was meinte sie damit?

In dem Brief, in dem sie schreibt „Meine persönliche Geschichte ist voller Ungerechtigkeiten“, spricht sie von ihrem Kampf, den sie schon seit sie sehr jung war führen musste. Sie erzählt von dem Kampf, den sie gemeinsam mit ihrer Mutter führen musste. Ebru liebte ihre Mutter Fatma sehr. Fatma hatte als 22-jährige Frau ihren Mann verloren und war mit ihren Kindern allein. Sie war eine Frau, die trotz aller Herausforderungen des Lebens Widerstand leistete und immer das Gute bevorzugte. Das hat Ebru immer gesagt. Das haben wir gesehen. So haben wir Ebru Timtik gesehen. Sie dachte immer an die anderen. Sie war eine Person, die an der Seite der Menschen um sie herum war, ihrer Nachbar:innen, Freund:innen, aber auch der Menschen, die sie nicht kannte, die aber Unrecht erfuhren. Sie war ein Mensch, der sich vor allem um die Menschen um sie herum sorgte. Sie lachte so schön. Ihr Lachen war immer das Herzlichste. Mit fällt nichts Negatives ein. Ihre persönliche Geschichte ging aber mit Unrecht weiter. Selbst die Krankenhausbedingungen, unter denen sie den letzten Monat ihres Lebens verbringen musste, waren eine konzentrierte Version der Ungerechtigkeiten, die sie immer erlitten hatte. Es gab eine Botschaft, in der sie detailliert die Bedingungen im Krankenhaus beschrieb. Zum ersten Mal hatte sie etwas, das mit ihr zu tun hatte, in den Vordergrund gestellt. Sie beendete ihren Brief mit den Worten, dass es ihr im Gefängnis im Vergleich dazu viel besser ging. Das war ein Detail, das ich nie aus meinem Leben und aus meinem Verstand herausbekommen konnte. Ihr Leben, in dem sie bereits soviel Unterdrückung und Unrecht erfahren hatte, hat mit Grausamkeit und Folter geendet.

Wenn sich die gesellschaftliche Opposition in einer starken Position befunden hätte, würden wir dann über das Recht auf ein faires Verfahren sprechen?

Ich will nicht sagen, dass die gesellschaftliche Opposition in ihrem Widerstand für ein faires Verfahren ohnmächtig war. Das könnte unfair sein. Ich spreche nicht nur von den Hungerstreiks. Denn wie ich bereits sagte, war Ebru nicht die erste, die einen fairen Prozess forderte, und sie war auch nicht die letzte. Sie entschied sich, das in einem Hungerstreik zu fordern. Ich denke, das Problem der Opposition ist, dass wir nicht überall im Land an der Seite der Menschen stehen können, die Unrecht erleben. Es muss genügen, wenn wir die Dinge verfolgen, wütend werden und schreien und dann nicht vergessen. Ein starker, permanenter Protest ist schwierig, denn wir erleben jeden Tag Massaker und Unrecht in diesem Land. Wir könnten eine Lösung schaffen, indem wir diese Wut nicht nur bei Massakern zum Ausdruck bringen, sondern jeden Tag, bis sich etwas verändert. Als gesellschaftliche Opposition ist das unsere Aufgabe.