Der linke Rechtsanwalt Aytaç Ünsal wird trotz seines sehr ernsten Gesundheitszustands mit immer neuen Repressionsmaßnahmen schikaniert. Obwohl verschiedenste Gutachten der Gerichtsmedizin bestätigen, dass der aufgrund seines 215-tägigen Hungerstreiks im vergangenen Jahr schwer geschädigte politische Gefangene haftunfähig ist, wies der Verfassungsgerichtshof seinen Antrag auf Aussetzung des Strafvollzugs ab. Stattdessen wurde gegen ihn eine eintägige Bunkerhaftstrafe erlassen.
Nermin Ünsal, die Mutter des im F-Typ-Gefängnis von Edirne inhaftierten Anwalts vom „Rechtsbüro des Volkes“ (HHB), berichtet gegenüber ANF über ein Telefongespräch mit ihrem Sohn. Sie gibt an, dass gepanzerte Spezialeinheiten, wie bereits zuvor, die Zelle ihres Sohnes, in der dieser mit zwei weiteren Personen gefangenen gehalten wird, gestürmt und durchsucht hatten. Trotz des schlechten Gesundheitszustands ihres Sohnes missachteten die Spezialeinheiten den Pandemieschutz und trugen weder Handschuhe noch Masken. Als Ünsal dagegen protestierte, sei ihm eine eintägige Bunkerhaftstrafe als Disziplinarmaßnahme auferlegt worden.
„Mir geht es sehr schlecht, ich habe starke Schmerzen“
Die Mutter beschreibt das Vorgehen der Sicherheitskräfte als inakzeptabel und berichtet über den Zustand ihres Sohnes: „Es geht ihm nicht gut. Er musste beim Anwaltsbesuch immer wieder die Beine hochlegen. Er hat große Schmerzen. Seine Venenklappen funktionieren nicht richtig. Da das Blut nicht richtig nach oben gepumpt wird, sammelt es sich in den Füßen und er kann nicht laufen. Er steht alle zehn Minuten auf und versucht, die Schmerzen zu lindern. Er ist so dünn, seine Beine sind so dick wie mein Unterarm. Seine Ernährung reicht nicht aus. Die Zerstörung der Nervenenden ist extrem und er muss reines Vitamin B1 bekommen. Das kriegt er im Gefängnis aber nicht. Die Thrombose-Strümpfe, die ich ihm geschickt habe, haben sie ihm auch nicht gegeben. Der Arzt dort gab ihm geschlossene Kompressionsstrümpfe, aber aufgrund der Zerstörung seiner Nervenenden hat er große Schmerzen beim Anziehen. Ich habe ihm offene besorgt, aber er hat sie nicht bekommen.“
„Briefe an Journalisten und Abgeordnete werden als verdächtig eingestuft“
Die Willkürhandlungen gegen den Anwalt bleiben aber nicht darauf beschränkt. In einem Jahr darf er nur 20 Bücher erhalten und auch legale Zeitungen werden nicht ausgehändigt, da sie „verdächtig“ seien. Die Mutter berichtet, das gleiche geschehe mit Briefen, die ihr Sohn an Abgeordnete oder Zeitungen schreibe. Sie sagt: „Mein Sohn wird permanent zensiert und isoliert.“
„Die Entscheidung des Gerichts ist rechtswidrig“
Die Mutter des Anwalts ist pensionierte Richterin. Als Juristin protestiert sie gegen die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs, den Antrag auf Aussetzung der Strafe zurückzuweisen. Insbesondere aufgrund der Berichte der Gerichtsmedizin, dass weiterhin Lebensgefahr bestehe, entbehre die Entscheidung jeder Grundlage.
Seit Dezember erneut in Haft
Der linke Rechtsanwalt Aytaç Ünsal war am 10. Dezember 2020 erneut verhaftet worden. Die Anfang September im Fall des 32-jährigen Juristen für einen Zeitraum von einem Jahr ausgestellte Haftunfähigkeitsbescheinigung wurde widerrufen.
Aytaç Ünsal saß bereits mehrmals im Gefängnis. Im Februar vergangenen Jahres trat er gemeinsam mit weiteren inhaftierten Anwältinnen und Anwälten für ein faires Verfahren in den Hungerstreik, nachdem sie aufgrund von widersprüchlichen Aussagen eines Kronzeugen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren. Am 5. April 2020 – dem „Tag des Anwalts” – wandelte er die Aktion gemeinsam mit Ebru Timtik, die Ende August an den Folgen eines 238-tägigen Nahrungsentzugs in Istanbul verstarb, in ein „Todesfasten“ um. Ünsal beendete seinen Hungerstreik am 4. September, einen Tag nach der Haftentlassung, und begab sich in ärztliche Behandlung.