Für Mord gibt es eigentlich nur eine Strafe - lebenslange Haft. Dass sie Cemal Metin Avcı erspart bleibt, liegt am Wesen des türkischen Staates, in dem sich eine Gesinnungsjustiz, die als Zufluchtsort für patriarchale Hassverbrechen wirkt, als Instrument der Männergesellschaft zur Abstrafung von Frauen betätigt. 23 Jahre Haft, von denen gerade einmal 14 Jahre und vier Monate abgesessen werden müssen, sollte das am Montag von einem Strafgericht im südwesttürkischen Muğla gesprochene Urteil gegen Avcı an Rechtskraft gewinnen, sollen die Konsequenz für den Femizid an Pınar Gültekin sein. Zuvor wurde eine lebenslange Gefängnisstrafe gegen den Mörder verhängt – allerdings nur symbolisch. Eine „ungerechtfertigte Provokation” wurde als strafmildernder Grund auf das Urteil angewendet. Und das, obwohl der Mörder vor der Urteilsverkündung noch sagte: „Ich habe kein schlechtes Gewissen.“
Bewusstlos geschlagen, gewürgt, lebendig verbrannt
Pınar Gültekin wäre heute 29 Jahre alt. Vor knapp zwei Jahren wurde die gebürtig aus Bedlîs (tr. Bitlis) stammende Studentin in Akyaka erst bewusstlos geschlagen, dann gewürgt und schließlich lebendig verbrannt, bevor ihr Körper in einem Fass mit Beton übergossen wurde. Der brutale Femizid hatte über die Landesgrenzen hinaus einen Aufschrei der Empörung und Proteste ausgelöst, weltweit teilten Menschen in sozialen Netzwerken den Namen der ermordeten Kurdin. Pınar Gültekin ist nur eine von Hunderten von Frauen, die in der Türkei jedes Jahr von Männerhänden getötet wurden.
Mitangeklagte freigesprochen
Es dauerte fünf Tage, bis die Polizei ihre sterblichen Überreste fand. Die Beamten waren Cemal Metin Avcı anhand Überwachungsaufnahmen einer Tankstelle auf die Spur gekommen. Auf den Bildern ist zu erkennen, wie er Benzinkanister in seinen Wagen lädt. Als Tatmotiv gab er in einem polizeilichen Verhör „Eifersucht auf seine Ex-Freundin“ an. Im Verlauf des Prozesses, der im November 2020 eröffnet wurde, behauptete er plötzlich, Pınar Gültekin habe ihn damit erpresst, „seine Familie zu zerstören“. Avcıs fünf Mitangeklagte, bei denen es sich um einen Bruder, beide Elternteile, seine Ex-Frau und einen Geschäftspartner handelt, die beschuldigt worden waren, ihm bei der Tat geholfen beziehungsweise Beweise weggeschafft zu haben, wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen.
Wut und Kritik nach Urteil
Die Entscheidung des Gerichts in Muğla stieß auf Wut und scharfe Kritik. Aus Sicht von Frauenorganisationen wurde dem Opfer damit eine Mitschuld an der Tat gegeben. Die Föderation der Frauenverbände in der Türkei schrieb dazu auf Twitter, die Leute hinter der Entscheidung trügen das „Blut von Frauen“ an ihren Händen. Der Frauenrat der Demokratischen Partei der Völker (HDP) twitterte, mit dem Verfahren sei die Straflosigkeit für Femizid einmal mehr bewiesen worden.
Mutter von Pınar: Der Staat schützt Frauenmörder
Pınar Gültekins Mutter Şefika Gültekin, die unlängst vom Mörder Cemal Metin Avcı wegen einer angeblichen Beleidigung verklagt wurde, sagte, ihre Tochter sei nun ein weiteres Mal ermordet worden. „Der Staat schützt die Mörder von uns Frauen. Wir hatten auf ein eindeutiges und richtungsweisendes Urteil gehofft, damit andere Frauen vor Femizid geschützt werden. Leider wurden wir auf eine vernichtende Weise eines Besseren belehrt. So etwas wie Gerechtigkeit sucht man vergeblich in diesem Land.“
Familienanwalt: Eine Monstrosität des gesprochenen Rechts
Rezan Epözdemir, Verteidiger der Familie Gültekin, sprach von einer „Monstrosität“ des gesprochenen Rechts. „Dieses Urteil ist ein Affront gegen Justitia. Wir sind heute Zeuge dessen geworden, dass die Gerechtigkeit in Muğla unwiederbringlich begraben worden ist. Ein Mörder, der eine junge Frau bei lebendigem Leib verbrannt hat und ihre Familie der Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft beraubte, ist mit einer Strafmilderung belohnt worden, obwohl ein solches Merkmal fehlte.“ Epözdemir hat angekündigt, umgehend Berufung gegen das Urteil einzulegen.