Der 10. Juni 2020 war ein emotionaler Tag für Schweden. Mehr als 34 Jahre nach dem Mord an dem schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme gab Staatsanwalt Krister Petersson an jenem Tag bekannt, den mutmaßlichen Täter ausgemacht zu haben. Da der Rechtsextreme mit dem Namen Stig Engström aber schon lange tot sei, könne keine Anklage mehr erhoben werden. Doch die Ermittlungen wegen des Mordes haben tiefe Wunden geschlagen.
Olof Palme war am Abend des 28. Februars 1986 um kurz vor Mitternacht gemeinsam mit seiner Frau auf dem Rückweg aus einem Stockholmer Kino gewesen, als er auf offener Straße von hinten erschossen wurde. Zwar war Engström als Täter verdächtigt worden, aber relativ schnell wieder aus den Ermittlungen herausgefallen, weil die Polizei sich damals auf die sogenannte PKK-Spur konzentrierte. Damit begann in ganz Europa eine Verfolgungswelle gegen Kurdinnen und Kurden, die letzten Endes auch den Grundstein für das PKK-Verbot legte. Und obwohl die Palme-Ermittlungen mit der Feststellung des Täters seit mehr als anderthalb Jahren abgeschlossen sind, hat Schweden noch immer keine Selbstkritik für die nachhaltige Kriminalisierung der kurdischen Gesellschaft im Zusammenhang mit dem Mord geübt.
Regierung stellt kurdische Schutzsuchende unter Generalverdacht
Im Gegenteil, statt eine Zäsur einzuleiten, verschärfte Schweden die Repression. Insbesondere gegen asylsuchende Kurdinnen und Kurden mit türkischer Staatsbürgerschaft. So war auch der Antrag des im vergangenen April während der Corona-Pandemie mit einer Privatmaschine abgeschobene Resul Özdemir abgelehnt worden. Der heute 24-jährige Aktivist hatte sich 2015 in Cizîr (tr. Cizre) am Widerstand gegen die türkische Militärbelagerung beteiligt. Fünf Monate lang befand er sich in Stockholm illegal in Auslieferungshaft, wo er mit Schlafentzug gefoltert wurde. Der türkische Geheimdienst MIT in Istanbul setzte die Tortur mit Waterboarding und Stromschlägen fort. Von der Abschiebung war weder Özdemirs Familie noch sein Rechtsbeistand in Kenntnis gesetzt worden. Sie fand zu einer Zeit statt, in der Pandemie-bedingt keine Flüge zwischen der Türkei und Schweden verkehrten – und trotz der Forderung von 40 Vereinen und Initiativen, ihm Asyl zu gewähren. Dies deutet auf eine Kooperation zwischen dem MIT und dem schwedischen Geheimdienst Säpo hin.
Abschiebung wegen politischen Engagements
Nun wollen Schwedens Behörden auch die Kurdin Zozan Büyük loswerden. In ihrem Fall droht zwar keine Folter in der Türkei, da die Frau belgische Staatsbürgerin ist. Dennoch soll sie brachial aus ihrem bisherigen Leben gerissen und von ihrem Mann und den beiden gemeinsamen Kindern getrennt werden – auf Betreiben der Säpo. Laut dem schwedischen Nachrichtendienst stelle Zozan Büyük ein Sicherheitsrisiko für das Land dar. Der Grund: sie sei politisch engagiert, insbesondere für die HDP.
Proteste aus Politik und Medien
Doch gegen die geplante Abschiebung regt sich Protest. Nicht nur die kurdische Community, sondern auch Politik und Medien stellten sich hinter Zozan Büyük und die größte schwedische Zeitung, das Aftonbladet, veröffentlichte drei Reportagen, in denen die Sapö für das Betreiben der Abschiebung kritisiert wurde. Auch die Familie der Frau und der kurdische Verein an ihrem Wohnort Örebro organisierten eine Reihe von Protestaktionen.
Thema im Parlament
Der Name Zozan Büyük ist auch Thema im schwedischen Parlament. Die rechtspolitische Sprecherin der Linken-Fraktion, Linda Westerlund Snecker, brachte den Fall jüngst mit einer parlamentarischen Anfrage auf die Tagesordnung. Snecker wies darauf hin, dass die Kooperation von MIT und Säpo Fragen aufwerfe. Der nationale Nachrichtendienst in Schweden stelle Menschen, die staatlich garantierte Freiheits- und Gleichheitsrechte nutzten, in Zusammenarbeit mit türkischen Kollegen in den Fokus ihrer Ermittlungen. Außerdem sprach Snecker von Repression gegenüber politischen Flüchtlingen mit türkischer Staatsbürgerschaft und fragte den Justiz- und Migrationsminister Morgan Johansson nach Konsequenzen aus der Risikobewertung der Säpo gemäß der Mentalität autoritärer Regime wie der Türkei.
Regierung verteidigt Abschiebungen
Auf die Anfrage antwortete Johansson, die Säpo würde nur die Gesetze zur Kontrolle von Ausländern befolgen und habe das Recht festzustellen, ob diese Personen eine Bedrohung darstellen. Die Polizei könne in einer solchen Situation auf die Ausländerbehörde einwirken und sich für eine Abschiebung einsetzen. Auch dürfe sie auf der Grundlage von nationalen und internationalen Informationen detaillierte Untersuchungen zu den Personen durchführen, die eine Gefahr für die Sicherheit Schwedens darstellen könnten. Damit deutet Johansson faktisch eine Zusammenarbeit mit türkischen Geheimdiensten an.
MIT-Zusammenarbeit gegen Kurden eingeräumt
Linda Westerlund Snecker gab gegenüber ANF an, von der Antwort des Ministers überrascht gewesen zu sein. Zwar könne sie verstehen, dass die Regierung keine Details zur Säpo preisgeben wolle. Trotzdem dürften Flüchtlinge nicht abgeschoben und zu Opfern gemacht werden. Allgemein sei es mehr als schwierig, Verhörmethoden und vor allem die Fragen nachzuvollziehen, die vermeintlich gefährlichen Asylsuchenden gestellt werden. Gefragt nach der zunehmenden Repression gegen Kurdinnen und Kurden, obwohl doch die Palme-Ermittlungen ein ganz anderes Ergebnis gezeitigt haben, entgegnet Snecker: „Darauf habe ich auch keine Antwort. Meine Fraktion und ich haben uns intensiv mit den Fragen auseinandergesetzt, welche Informationen der Geheimdienst von welchen Ländern erhält, warum gewisse Personen als Sicherheitsrisiko eingestuft und in andere Länder abgeschoben werden.“ Sie habe kürzlich mit der Säpo gesprochen. „Sie ist sich unserer Kritik sehr wohl bewusst.“
„Informationen zu den Abschiebungen anfordern“
Snecker sitzt auch im Parlamentarischen Kontrollausschuss, der die Arbeit des Geheimdienstes kontrollieren soll. „Wir werden uns hier nicht mit den spezifischen Situationen von Einzelpersonen befassen, aber wir werden Informationen über solche Abschiebungen anfordern. Diese Fragen sind sehr komplex und wichtig. Die schwedische Sicherheitspolizei sollte objektiver in ihren Bewertungen sein, und alle Bürger haben das Recht, über ihre Arbeit Bescheid zu wissen.“