Erste digitale Enzyklopädie startet am 2. Juli
Mit der Veröffentlichung der ersten digitalen Alevitischen Enzyklopädie geht am 2. Juli ein bedeutendes Kultur- und Bildungsprojekt online. Die mehrsprachige Plattform wurde unter Federführung der in Dortmund ansässigen „Rıza Şehri Akademisi“ entwickelt und soll Alevit:innen weltweit miteinander verbinden sowie Wissen über Geschichte, Glauben und Kultur der religiösen Gemeinschaft langfristig sichern.
Die Enzyklopädie erscheint zunächst in fünf Sprachen: Türkisch, Kurmancî, Englisch, Deutsch und Französisch. Sie gilt schon jetzt als eines der umfassendsten digitalen Nachschlagewerke zur alevitischen Tradition.
Wissen, Erinnerung und Widerstand
Die Herausgeber:innen sehen das Projekt nicht nur als akademische Quelle, sondern auch als Ausdruck eines selbstbewussten kulturellen Standpunkts. Die Entscheidung, das Projekt unabhängig und aus der alevitischen Gemeinschaft heraus zu entwickeln, sei eine Reaktion auf staatliche Bestrebungen, ein eigenes Alevitentum aus offizieller Perspektive zu definieren. Kritiker:innen hatten frühere Regierungsinitiativen in diesem Bereich als Versuch der Assimilation gewertet.
Die neue Enzyklopädie verfolgt laut Projektteam das Ziel, Wissen „mit einer Hüseynî-Haltung“ in die Zukunft zu tragen – in Anlehnung an das symbolträchtige Martyrium des Propheten Hüseyins als Ausdruck von Gerechtigkeit und Widerstand. Die Wahl des Veröffentlichungstermins – 2. Juli – markiert zugleich den Jahrestag des Pogroms von Sivas 1993, bei dem 33 Intellektuelle und Kulturschaffende ums Leben kamen. Die Initiator:innen wollen damit ein Zeichen des Gedenkens und der Selbstermächtigung setzen.
Breites Themenspektrum – kollektive Arbeit
Die Enzyklopädie umfasst eine Vielzahl an Themen – von Geschichte, Philosophie und Ritualen über Literatur und Musik bis hin zu gesellschaftlichen Fragen wie Gender, Gewalt, Erinnerungskultur und Ökonomie. Zahlreiche Wissenschaftler:innen und Fachautor:innen waren an der Entstehung beteiligt.
Zugänglich über das Internet, richtet sich das Projekt nicht nur an Alevit:innen in der Türkei, sondern auch an die weitverzweigte Diaspora in Europa. Die digitale Plattform versteht sich als Brücke zwischen den Generationen und Regionen und als Beitrag zur Archivierung der alevitischen Erzähltradition.
Nach Angaben der „Rıza Şehri Akademisi“ ist das Projekt langfristig angelegt und soll fortlaufend erweitert und gepflegt werden. Die Enzyklopädie steht der Öffentlichkeit ab dem 2. Juli kostenlos unter dem Link https://www.aleviansiklopedisi.com/ zur Verfügung.
„Rıza Şehri“ ist ein zentraler Begriff in der alevitischen Glaubenswelt und bedeutet wörtlich übersetzt „Stadt des Einvernehmens“ oder „Stadt des Konsenses“. Die „Rıza Şehri“ ist keine geografische Stadt, sondern ein ideales, spirituelles Gemeinwesen. Sie beschreibt einen utopischen Zustand oder eine Gesellschaftsordnung, in der Menschen in gegenseitigem Respekt und Gerechtigkeit leben; Solidarität, Gleichheit, Gewissensfreiheit und ethische Verantwortung im Zentrum stehen; soziale Beziehungen auf „rıza“, also auf freier Zustimmung und Ausgewogenheit beruhen; es keinen Zwang, keine Unterdrückung und keine Ausbeutung gibt. In der alevitischen Kosmologie gilt „Rıza Şehri“ als eine Art irdischer Ausdruck des idealen göttlichen Prinzips – eine ethisch-spirituelle Vision eines gerechten Zusammenlebens. Sie ist eng verknüpft mit der Vorstellung von Hakk/Haq (der göttlichen Wahrheit), Yol/Rê (dem Weg) und Edep/Pûşil (der sittlichen Haltung).