2. Juli 1993 – Pogrom von Sivas

Vor 31 Jahren kamen 35 Menschen zumeist alevitischen Glaubens im Hotel Madımak in Sivas bei einem islamistisch-nationalistischen Pogrom ums Leben. Dieses Ereignis wirkt bis heute nach. Noch immer kämpfen Opfer und Hinterbliebene um Gerechtigkeit.

Bis heute eine blutende Wunde

35 Menschen, darunter Kunstschaffende und Intellektuelle sowie zwei Angestellte, verbrannten oder erstickten am 2. Juli 1993, als ein islamistischer Mob in der zentralanatolischen Stadt Sivas, deren kurdischer Name Sêwas lautet, Brandsätze in das Hotel Madımak warf. An jenem Tag fand wie Jahre zuvor ein Kulturfestival statt, das der alevitischen spirituellen Identifikationsfigur Pir Sultan Abdal gewidmet war – ein Volksdichter und Freiheitsheld aus dem 16. Jahrhundert, der in seinen Gedichten die sozialen, kulturellen und religiösen Empfindungen seiner Mitmenschen ausdrückte und wegen Rebellion gegen die osmanische Herrschaft hingerichtet wurde.

Die Opfer: Dichter:innen, Denker:innen, Sänger:innen und Tänzer:innen

Die im Madımak logierenden Gäste des Festivals waren überwiegend alevitische Dichter:innen, Denker:innen, Sänger:innen und Folkloretänzer:innen, aber auch kritische Intellektuelle anderer Konfessionen. Unter ihnen befand sich auch der Schriftsteller Aziz Nesin, der das Pogrom knapp überleben sollte. Der bekennende Atheist war bei Islamisten verhasst, weil er sich für die Publikation der „Satanischen Verse“ von Salman Rushdie einsetzte. Das Buch wird bis heute von religiösen Fanatikern als ketzerisch empfunden.

„Das ist das Höllenfeuer, in dem die Ungläubigen brennen werden“

Nach dem Freitagsgebet zogen aus drei Moscheen 15.000 Fanatiker erst durch die Stadt und schließlich vor das Madımak-Hotel. Aus ihren Kehlen hallte es: „Es lebe die Scharia! Nieder mit dem Laizismus!“ Steine und Brandsätze flogen, die Menge kesselte die Festivalteilnehmenden ein. Die Gäste versuchten verzweifelt, Hilfe zu holen, riefen in der Zentrale der Sozialdemokratischen Volkspartei (SHP) an, die an der Regierung von Tansu Çiller beteiligt war. Sie baten Vize-Regierungschef Erdal Inönü, er möge die Eingeschlossenen befreien. Doch seine Aufforderung an Armee und Polizei, das Hotel zu schützen und den Belagerten zu helfen, wurde ignoriert. Aus den Reihen der Angreifer war zu hören: „Das ist das Höllenfeuer! Das Feuer, in dem die Ungläubigen brennen werden.“

Militär zieht sich zurück, Polizei hilft Angreifern

Die Ereignisse in Sivas wurden über acht Stunden live im Staatsfernsehen übertragen. Die Aufnahmen zeigten unter anderem, wie vereinzelte Polizisten der Menge halfen und eine anrückende Militäreinheit sich wieder zurückzog, ohne den Menschen im Madımak Hilfe zu leisten. Auf den Bildern jenes Tages ist auch zu sehen, wie Islamisten in das Hotel eindrangen, Benzin vergossen und es ansteckten. Die Flammen schlugen schnell bis zur dritten Etage, da das Gebäude aus Holz war. Die eingeschlossenen Menschen konnten sich nicht aus dem brennenden Hotel retten, weil der wütende Mob ihnen den Weg versperrte und den Brand bejubelte. Aziz Nesin und mehr als vierzig weiteren Menschen gelang es schließlich, über das Dach auf ein Nachbargebäude zu flüchten. Viele von ihnen waren schwer verletzt. Im Tumult erschossen Beamte zwei Angreifer.

Keine juristische und politische Aufarbeitung

Das Massaker von Sivas ist auch nach mittlerweile mehr als drei Jahrzehnten weder juristisch noch politisch aufgearbeitet. Bis heute fordern alevitische Verbände eine unabhängige Aufklärung des Verbrechens vom 2. Juli 1993, doch eine Bestrafung der Täter liegt in weiter Ferne. Zwar hatte es Schauprozessen gegen einzelne Attentäter gegeben – von den etwa 15.000 Beteiligten des Pogroms nahmen Sicherheitskräfte nur 190 fest, verurteilt wurden nur 130; hauptsächlich zu symbolischen Haftstrafen – doch viele der Täter genießen bis heute ein Leben in Freiheit. Und das nicht nur in der Türkei. Einige Pogrom-Beteiligte flohen damals nach Deutschland, wo sie Asyl erhielten. Trotz internationalen Haftbefehlen fand nie eine Auslieferung statt. Auch weigerte sich die deutsche Justiz, die Mittäterschaft der drei Männer an dem Pogrom nach dem Weltrechtsprinzip selbst zu ahnden. Einige von ihnen besitzen sogar die deutsche Staatsbürgerschaft.

Die Toten von Sivas: Muhlis Akarsu (45), Muhibe Akarsu (44), Gülender Akça (25), Metin Altıok (53), Mehmet Atay (25), Sehergül Ateş (29), Behçet Sefa Aysan (44), Erdal Ayrancı (35), Asım Bezirci (66), Belkıs Çakır (18), Serpil Canik, (19), Muammer Çiçek (26), Nesimi Çimen (62), Carina Cuanna Thuijs (23), Serkan Doğan (19), Hasret Gültekin (22), Murat Gündüz (22), Gülsüm Karababa (22), Uğur Kaynar (37), Asaf Koçak (35), Koray Kaya (12), Menekşe Kaya (15), Handan Metin (20), Sait Metin (23), Huriye Özkan (22), Yeşim Özkan (20), Ahmet Özyurt (21), Nurcan Şahin (18), Özlem Şahin (17), Asuman Sivri (16), Yasemin Sivri (19), Edibe Sulari (40), İnci Türk (22) sowie die Hotelangestellten Ahmet Öztürk (21) und Kenan Yılmaz (21). 


Fall beim Verfassungsgericht anhängig

Im September 2023 ist in der Türkei auch das letzte noch anhängige Verfahren im Zusammenhang mit dem Massaker von Sivas wegen Verjährung eingestellt worden. Für einen Funken Gerechtigkeit im juristischen Sinne sorgen könnte jetzt nur noch der Verfassungsgerichtshof. Opferangehörige hatten dafür geklagt, dass das Massaker als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft und es damit zu einer unverjährbaren Straftat erklärt wird. Zehn Jahre mussten vergehen, ehe die Generalversammlung des höchsten Gerichts der Türkei im vergangenen Februar endlich beschloss, sich „mit der Sache“ zu befassen. Seither hat sich allerdings nichts mehr getan. Die Beschwerdeführenden müssen auch 31 Jahre nach Sivas auf Gerechtigkeit warten.