Türkisches Verfassungsgericht befasst sich mit Sivas-Pogrom

Der türkische Verfassungsgerichtshof wird sich mit dem Sivas-Pogrom von 1993 befassen. Opferangehörige hatten dafür geklagt, dass das Massaker als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft und es damit zu einer unverjährbaren Straftat erklärt wird.

Der türkische Verfassungsgerichtshof wird sich mit einer Klage rund um das Pogrom von Sivas vor mehr als dreißig Jahren befassen. Wie es am Donnerstag aus Justizkreisen hieß, hat die Generalversammlung des höchsten Gerichts der Türkei beschlossen, einen zusätzlichen Bericht zur Sache einzuholen. Zehn Jahre mussten die Beschwerdeführenden auf diese Entscheidung warten.

2014 brachten gleich mehrere Angehörige von Opfern des Sivas-Pogroms sogenannte Individualbeschwerden beim Verfassungsgericht in Ankara ein. Zuvor hatten untergeordnete Gerichte die ersten Anklagen gegen flüchtige mutmaßliche Beteiligte des Massakers für verjährt erklärt. „Mit Gottes Segen“, kommentierte der damalige Ministerpräsident und heutige Staatschef Recep Tayyip Erdoğan im Jahr 2012 eine entsprechende Entscheidung.

Die Beschwerdeführenden fordern, dass das Pogrom als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft und es damit zu einer unverjährbaren Straftat im Sinn von Artikel 77 des türkischen Strafgesetzbuches erklärt wird. Sie machen geltend, dass in Sivas das Recht auf Leben und das Recht auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit verletzt wurde. Zudem monieren sie, dass ein Verstoß gegen das Recht auf ein wirksames Gerichtsverfahren vorliege.

Pogrom von Sivas

35 Menschen, darunter etliche Kunstschaffende und Intellektuelle sowie zwei Angestellte, verbrannten oder erstickten am 2. Juli 1993, als ein islamistischer Mob in der zentralanatolischen Stadt Sivas, deren kurdischer Name Sêwas lautet, Brandsätze in das Hotel Madımak warf. An jenem Tag fand wie Jahre zuvor ein Kulturfestival statt, das der alevitischen spirituellen Identifikationsfigur Pir Sultan Abdal gewidmet war – ein Volksdichter und Freiheitsheld aus dem 16. Jahrhundert, der in seinen Gedichten die sozialen, kulturellen und religiösen Empfindungen seiner Mitmenschen ausdrückte und wegen Rebellion gegen die osmanische Herrschaft hingerichtet wurde.

Die im Madımak logierenden Gäste des Festivals waren überwiegend alevitische Dichter:innen, Denker:innen, Sänger:innen und Folkloretänzer:innen, aber auch kritische Intellektuelle anderer Konfessionen. Unter ihnen befand sich auch der Schriftsteller Aziz Nesin, der das Pogrom knapp überleben sollte. Der bekennende Atheist war bei Islamisten verhasst, weil er sich für die Publikation der „Satanischen Verse“ von Salman Rushdie einsetzte. Das Buch wird bis heute von religiösen Fanatikern als ketzerisch empfunden.

„Es lebe die Scharia! Nieder mit dem Laizismus!“

Nach dem Freitagsgebet zogen aus drei Moscheen 15.000 Fanatiker erst durch die Stadt und schließlich vor das Madımak-Hotel. Aus ihren Kehlen hallte es: „Es lebe die Scharia! Nieder mit dem Laizismus!“ Steine und Brandsätze flogen, die Menge kesselte die Festivalteilnehmenden ein. Die Gäste versuchten verzweifelt, Hilfe zu holen, riefen in der Zentrale der Sozialdemokratischen Volkspartei (SHP) an, die an der Regierung von Tansu Çiller beteiligt war. Sie baten Vize-Regierungschef Erdal Inönü, er möge die Eingeschlossenen befreien. Doch seine Aufforderung an Armee und Polizei, das Hotel zu schützen und den Belagerten zu helfen, wurde ignoriert. Aus den Reihen der Angreifer war zu hören: „Das ist das Höllenfeuer! Das Feuer, in dem die Ungläubigen brennen werden.“

Deutschland gewährte Beteiligten von Massaker Asyl

Die Ereignisse in Sivas wurden über acht Stunden live im Staatsfernsehen übertragen. Die Aufnahmen zeigten unter anderem, wie vereinzelte Polizisten der Menge halfen und eine anrückende Militäreinheit sich wieder zurückzog. Auf den Bildern jenes Tages ist auch zu sehen, wie Islamisten in das Hotel eindrangen, Benzin vergossen und es ansteckten. Die Flammen schlugen schnell bis zur dritten Etage, da das Gebäude aus Holz war. Die eingeschlossenen Menschen konnten sich nicht aus dem brennenden Hotel retten, weil der wütende Mob ihnen den Weg versperrte und den Brand bejubelte. Aziz Nesin und mehr als vierzig weiteren Menschen gelang es schließlich, über das Dach auf ein Nachbargebäude zu flüchten. Viele von ihnen waren schwer verletzt. Im Tumult erschossen Beamte zwei Angreifer.

Von den etwa 15.000 Beteiligten des Pogroms nahmen Sicherheitskräfte nur 190 fest. Die Prozesse dauerten Jahre, 130 Angeklagte wurden zu Haftstrafen zwischen zwei Jahren und lebenslänglich verurteilt. In 33 Fällen erging die Todesstrafe, die nach deren Abschaffung in der Türkei zu erschwerten lebenslangen Gefängnisaufenthalten umgewandelt wurde. Auch die drei Sivas-Attentäter Murat Sonkur, Eren Ceylan und Murat Karataş, die jahrzehntelang unbehelligt im Ausland lebten, wurden damals verurteilt. Ersterer bekam wegen „Verstoß gegen das Demonstrationsgesetz“ drei Jahre, Ceylan und Karataş erhielten wegen Brandstiftung mit Todesfolge in 35 Fällen sowie versuchten Totschlags in 45 Fällen jeweils 15 Jahre Haftstrafe. Doch absitzen mussten sie ihre Strafen nicht. Nach einigen Monaten in Untersuchungshaft waren alle drei Beschuldigten bereits 1994 wieder entlassen worden – und mit weiteren Pogrom-Beteiligten nach Deutschland geflohen, wo sie Asyl erhielten. Trotz internationalen Haftbefehlen fand nie eine Auslieferung statt. Auch weigerte sich die deutsche Justiz, die Mittäterschaft der drei Männer an dem Pogrom nach dem Weltrechtsprinzip selbst zu ahnden.

Der Kassationshof hob die Urteile gegen zahlreiche Massaker-Beteiligte später wieder auf und verfügte, dass sie auch wegen Verstößen gegen die verfassungsmäßige Ordnung der Türkei belangt werden müssten. Da Murat Sonkur, Eren Ceylan und Murat Karataş inzwischen unter den flüchtigen Beteiligten des Pogroms von Sivas waren, wurde das Verfahren gegen sie abgetrennt behandelt. Es handelte sich um den letzten anhängigen Prozess um das Sivas-Massaker – und endete im September vergangenen Jahres wegen Eintritt der Verjährung. Umgehend waren die Haftbefehle gegen die Angeklagten aufgehoben und Auslieferungsersuchen zurückgezogen worden.