In mehreren Städten in der Türkei sind am Sonntag zahlreiche Menschen alevitischen Glaubens auf die Straße gegangen, um für Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung zu demonstrieren. Hintergrund der Proteste, die in Istanbul, Izmir, Aydın, Muğla, Balıkesir, Adana und Ankara stattfanden, ist ein bevorstehendes Gesetzgebungsverfahren zur Reglementierung der alevitischen Religionsausübung. Die AKP/MHP-Regierung will Regelungen zur alevitischen Glaubensausübung per Gesetz festlegen - jedoch in realitätsferner, inhaltsleerer und folkloristischer Darstellung des Alevitentums, wie Interessenvertretungen kritisieren, darunter auch die Alevitische Gemeinde Deutschland. Hinzu kommt, dass die Bestimmungen per „Sackgesetz“ („Torba Yasası”) erlassen werden sollen. Damit erleichtert sich das Parlament die Abstimmung, denn verschiedene Vorhaben werden in einem gebündelten und undifferenzierten Verfahren auf einmal votiert und eine sinnvolle inhaltliche Auseinandersetzung wird aufgrund der Vielzahl der behandelten Themen praktisch unmöglich gemacht.
Für Demokratie und Säkularismus
Zu den Protesten riefen die acht mitgliederstärksten alevitischen Verbände auf. Dazu zählte auch die Konföderation der alevitischen Gemeinden in Europa (AABK). In Istanbul wurde in drei Stadtgemeinden gleichzeitig protestiert: Avcılar, Kadıköy und Sultangazi. „Wir fordern unser Recht auf Gleichberechtigung ein“ und „Wir sind nicht die Aleviten des Staates“ wurde immer wieder skandiert. Auf Plakaten waren Schriftzüge wie „Für Demokratie und Säkularismus“ und „Kämpfend werden wir gewinnen“ zu lesen.
„Präsidium für Aleviten/Bektaschi und Cemhäuser“
Der Zorn der Menschen richtete sich aber nicht nur gegen das geplante Sammelgesetz, sondern auch gegen das „Präsidium für Aleviten/Bektaschi und Cemhäuser“. Die Behörde wurde in der Nacht zum vergangenen Mittwoch per Dekret von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan gegründet und ist dem Ministerium für Kultur und Tourismus unterstellt. An dieses sollen alle Vereine beziehungsweise Gebetshäuser der religiösen nichtmuslimischen Minderheit angebunden werden - offiziell, um ihre Bedürfnisse zu erkunden, bei der Gewährung von finanziellen Unterstützungen wie etwa Bildungsarbeit behilflich zu sein und zu ihrer Kultur zu forschen. Das Präsidium verfügt über einen Beratungsrat, dessen elf Mitglieder durch den Staatspräsidenten ernannt werden. Der Schritt sei das Ergebnis eines langen Prozesses, bei dem laut Erdoğan etwa 1.600 Gebetshäuser der Gemeinschaft besucht worden seien, um „Wünsche und Probleme“ anzuhören.
„Gleichberechtigung ist unser Recht“
Anbindung an Kulturministerium ein Affront
Alevitische Verbände widersprechen vehement. „Es wird nur über uns geredet, aber nicht mit uns“, kritisierte Ibrahim Karakaya, Vorsitzender der Geschäftsstelle des Kulturvereins Pir Sultan Abdal in Kadıköy. Gegen die Diskriminierung werde aber weiterhin nichts unternommen, ganz im Gegenteil. „Das Alevitentum ist nicht einmal als Glaube anerkannt. Es untersteht dem Kulturministerium, als wäre es Folklore oder eine Kunstrichtung. Das ist ja schon ein Affront an sich“, so Karakaya. Deutlich sei aber auch die Tatsache zu erkennen, dass die Pläne der politischen Führung des Landes einem „Putsch“ glichen und die alevitische Gemeinschaft unter „Zwangsverwaltung“ genommen werden solle.
Vorhaben eine Aberkennung des Alevitentums
„Weder das Gesetzesvorhaben noch das neugeschaffene Präsidium sind eine Anerkennung unseres Glaubens, sondern eine Aberkennung. Die Forderungen unserer Verbände bleiben unberücksichtigt, wir werden als Religionsgemeinschaft nicht ernst genommen“, betonte Karakaya. In der Tat geht das Vorhaben von AKP und MHP auf keine der seit Jahren gestellten Forderungen alevitischer Verbände ein. Dazu zählt ganz oben die Beendigung der staatlichen Diskriminierung und Assimilierungspolitik, das Ende der Teilnahmepflicht am sunnitisch geprägten Religionsunterricht, keine Moscheen in alevitischen Provinzen, die Anerkennung der Cemevi als Gotteshäuser sowie die Auflösung der staatlichen Religionsbehörde Diyanet.
„Wir lassen uns nicht einsacken“
Auch der Vorfall vom Dienstag habe gezeigt, dass es einzig darum gehe, die alevitische Gemeinschaft mit Zwang, Gewalt und Dressur folgsam zu machen. Karakaya spielte damit auf einen Übergriff von Sicherheitskräften auf hochrangige Vertreterinnen und Vertreter alevitischer Gemeinden vor dem türkischen Parlament an. Die von Abgeordneten der Oppositionsparteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützte Delegation wollte mit einer Presseerklärung vor dem Parlamentsgebäude die Ungleichbehandlung der Regierung gegenüber alevitischen Gläubigen zur Sprache bringen und Forderungen an den Staat formulieren. Das friedliche Anliegen wurde jedoch mit massiver Polizeigewalt beantwortet, einige Beteiligte wurden sogar mit Knochenbrüchen und inneren Verletzungen im Krankenhaus behandelt. „Das ist der einzige Umgang des Staates mit Angehörigen unserer Gemeinschaft. Man will uns ‚einsacken‘. Wir aber lassen uns nicht in den Sack hauen und beharren auf unsere Freiheits- und Gleichheitsrechte.“
Doğan: Verstaatlichung und Sunnitisierung des Alevitentums
Der Vorsitzende der Föderation alevitischer Stiftungen, Haydar Baki Doğan, betonte, es obliege Staaten nicht, Überzeugungen und Praktiken einer Glaubensgemeinschaft zu definieren. Genau das sei aber durch das neue Präsidium in Ankara sowie das geplante Sackgesetz Ziel und Zweck der regierenden AKP. „Sie wollen unsere Gebetshäuser in ihren politischen Hinterhof verwandeln. Unsere Dedes [religiöse Würdenträger im Alevitentum] sollen zu Diyanet-Missionaren umgeformt und sich als solche als politischer Arm des Regimes betätigen. Sie zielen darauf ab, eine Verstaatlichung und Sunnitisierung des Alevitentums zu vollziehen. Ihr langfristiges Ziel ist die Islamisierung der gesamten Gesellschaft in der Türkei.“ Doğan bewertete die „Aleviten-Politik” von Erdoğan auch als ein Wahlkampfmanöver und kündigte weitere Proteste der alevitischen Gemeinden an.