Protest von alevitischen Verbänden: „Für Demokratie und Säkularismus“

Der Nationale Bildungsrat der Türkei will das Pflichtfach „Religion und Ethik“ künftig auch für Kinder im Vorschulalter einführen. Alevitische Verbände sind entsetzt und haben „Für Demokratie und Säkularismus“ zu einem Protest in Istanbul aufgerufen.

„Für Demokratie und Säkularismus: Nein zu monistischer, sexistischer, ausgrenzender, klerikaler, unwissenschaftlicher und assimilatorischer Erziehung“ – so in etwa lautete das Motto einer Demonstration in Istanbul, zu der für diesen Sonntag alevitische Organisationen in der Türkei aufgerufen hatten. Anlass ist ein vom Nationalen Bildungsrat bei der letzten Sitzung im Dezember eingebrachter Vorschlag, das Pflichtfach „Religion und Ethik“ künftig für Kinder im Vorschulalter einzuführen. Alevitische Verbände befürchten, dass diese Praxis schon ab dem bevorstehenden Mittwoch bittere Realität sein könnte. Denn an diesem Tag wird landesweit wieder der Präsenzunterricht beginnen – mit den vom Bildungsrat erarbeiteten Plänen.

„Das Vorhaben, Vorschulkinder im Alter zwischen vier und sechs Jahren pflichtgemäß in Religion, Koranlesen und Prophetenkunde zu unterrichten, stellt nicht nur eine eklatante Kindeswohlgefährdung dar. Dieser Plan zielt auf die Assimilation der Kinder von Millionen Menschen ab, deren Glaubensüberzeugungen sich von der vorherrschenden Religion unterscheiden“, hieß es in einer von der Journalistin Nilgün Mete im Namen der veranstaltenden Organisationen verlesenen Stellungnahme. Im Besonderen konzentriere sich dieses Vorhaben auf Menschen mit alevitischer Glaubenszugehörigkeit sowie Menschen ohne religiöse Bindung und behindere damit die gesunde Entwicklung des Kindes im pädagogischen Sinne. „Sollte dieser Plan tatsächlich in die Praxis umgesetzt werden, behalten die alevitischen Verbände und Organisationen in der Türkei sich das Recht vor, ihre Einwände in Form von ausgeweiteten Aktionen zum Ausdruck zu bringen. Diese beinhalten auch den Akt des zivilen Ungehorsams“, hieß es weiter.

„Assimilation ist Mord“ - Aufgerufen zu der Veranstaltung im asiatischen Stadtteil Kadiköy hatten unter anderem die Alevitisch-Bektaschitische Föderation (ABF), die Föderation der alevitischen Vereine (ADFE), die Föderation der alevitischen Stiftungen (AVF), die Konföderation der Alevitischen Gemeinden in Europa (AABK), die alevitischen Kulturvereine und die Plattform für Demokratie (DIB). Unterstützung gab es von zahlreichen politischen und zivilgesellschaftlichen Einrichtungen wie den Gewerkschaften Eğitim Sen und KESK und den Parteien HDP, EMEP, TIP und grüne Linke. © ANF/Zeynep Kuray

Religionsunterricht seit 1982 Pflicht

Religionsunterricht ist in der Türkei seit der Verabschiedung des Grundgesetzes im Jahr 1982 unter der Militärjunta Pflichtfach an Schulen. Unter dem derzeitigen System können sich nur Schüler:innen der anerkannten jüdischen, armenischen und griechischen Minderheiten von der Pflichtteilnahme am staatlichen Religionsunterricht befreien lassen. Alevitische Kinder dagegen müssen teilnehmen, da Ankara alevitische Gläubige nicht als eigenständige Religionsgemeinschaft anerkennt. In der Praxis bedeutet das eine Zwangsunterrichtung der sunnitischen Lehre und eine Missachtung ihrer Glaubensfreiheit. Alevitische Verbände äußern daher immer wieder zu Recht den Vorwurf, sie würden diskriminiert. Mit dem Ziel das Land ethnisch und religiös zu vereinheitlichen, betreibe der türkische Staat eine Assimilation und Sunnitisierung der alevitischen Gläubigen, gemäß der Formel „Wir sind alle Muslime“. Sie fordern, dass die Türkei als säkularer Staat alle Religionen gleichbehandelt und keine bestimmte Religion direkt unterstützt, wie das gegenwärtig geschieht. Alevitische Organisationen setzen sich seit Jahrzehnten für die Anerkennung des Alevitentums als eigenständige Religion, gegen die Deklarierung ihrer Glaubenseinrichtungen als „Gewerberäume“ sowie die Lehren des sunnitischen Islam als Pflicht auf dem Stundenplan ein.

Türkei ignoriert EGMR-Urteile zu Religionsfreiheit

Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) fordert von der Türkei die Wahrung der Religionsfreiheit und hat sich bereits mehrfach mit dieser Frage beschäftigt. So wurde das Land 2007 verurteilt, weil der Religionsunterricht „nicht den Kriterien einer pluralistischen Erziehung in einer demokratischen Gesellschaft” entspreche. 2009 wurde die Türkei erneut dazu verdonnert, alevitische Kinder aus Gründen der Glaubensfreiheit vom sunnitischen Religionsunterricht freizustellen. Fünf Jahre später rief der EGMR die Türkei in einem Urteil auf, den Schüler:innen im Land die Möglichkeit zu geben, sich vom bisherigen Pflichtfach Religion befreien zu lassen, ohne dass die Eltern ihre Religionszugehörigkeit offenlegen müssten. Der Staat müsse in religiösen Dingen neutral bleiben. 2015 folgte in letzter Instanz eine weitere Aufforderung an Ankara, Islamunterricht als Pflichtfach an staatlichen Schulen abzuschaffen. Dem widersetzt sich die islamistische Regierung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan noch heute.

„Wir wollen ein demokratisches, bürgernahes, säkulares Land“ - Das politische Bühnenprogramm wurde musikalisch live begleitet. Auf dem Platz gab es ausgiebige Tänze dazu. © ANF/Zeynep Kuray

Säkularismus ist die Voraussetzung für den Schutz der Menschenwürde

„Der obligatorische Religionsunterricht muss auf allen Stufen abgeschafft werden, auch im Rahmen des sogenannten Wahlpflichtunterrichts“, hieß es weiter in der Erklärung des Organisationskomitees der Demonstration. Der Nationale Bildungsrat sollte in ein „demokratisches und unabhängiges Beratungsgremium“ umgewandelt werden, in dem alle gesellschaftlichen Gruppen vertreten sind. Bildungsentscheidungen sollten unter Berücksichtigung der soziologischen Struktur der Gesellschaft von unabhängigen Gremien getroffen werden, die unter der Leitung von Wissenschaftler:innen und Pädagog:innen gebildet werden. „Säkularismus ist nicht nur die Trennung von Religion und Staat, sondern auch die Voraussetzung für den Schutz der Menschenwürde, aller Rechte und Freiheiten und der pluralistischen Demokratie“, betonte Nilgün Mete. Die Linie sei klar gesetzt: Nein zu Bildung und Erziehung, die monistisch, sexistisch, ausgrenzend, nicht-sekulär, jenseits von Wissenschaft und Weltanschauung und assimilatorisch sei. „Wir fordern die Verantwortlichen auf, von dem Vorhaben, Vorschulkinder in sunnitischer Islamkunde zu unterrichten, abzusehen und Religion als Pflichtfach abzuschaffen. Die Regierung ist aufgerufen, die Urteile des EGMR in Fragen Religionsfreiheit umzusetzen, statt die Islamisierung des Bildungssystems weiter voranzutreiben. Wir wollen eine wissenschaftliche, demokratische, säkulare, muttersprachliche Bildung und gleichberechtigte Staatsbürgerschaft. Wir wollen die Gleichstellung der Geschlechter.“