In Ankara haben am Samstag zeitgleiche Angriffe auf alevitische Gemeindehäuser und Vereine stattgefunden. Betroffen waren die Gemeindehäuser Şah-ı Merdan in Mamak und Ana Fatma in Tuzluçayır sowie die Turkmenisch-Alevitische Bektaşi-Stiftung in Kızılay und der Dorfverein Gökçebel.
Im Gemeindehaus Şah-ı Merdan schleuderte ein Angreifer einen Stuhl auf Personen, die sich zum Gebet versammelt hatten. Eine Person wurde am Kopf getroffen. Die Turkmenisch-Alevitische Bektaşi-Stiftung wurde von einem Mann aufgesucht, der an die Tür klopfte und eine Mitarbeiterin fragte: „Seid ihr Aleviten? Betet ihr hier?“. Die Frau antwortete, dass sich der Gebetsraum im oberen Stock befindet, aber heute keine Andacht stattfindet. Daraufhin stürzte sich der Angreifer auf die Mitarbeiterin und stach auf sie ein. Die Frau schrie und der Angreifer flüchtete. Die verletzte Frau wurde zur medizinischen Verorgung ins Krankenhaus gebracht.
Zeitgleich wurden im Ana Fatma Cemevi und in den Räumlichkeiten des Dorfvereins Gökçebel die Scheiben eingeworfen. Vor dem Gemeindehaus Ana Fatma kam nach dem Angriff eine Menschenmenge zusammen. Der Vereinsvorsitzende Mustafa Karabudak gab eine kurze Erklärung ab, in der er auf die von der Regierung betriebene Hetze gegen Alevit:innen hinwies. „Heute ist der erste Tag des Muharrem-Monats und es haben in Ankara zeitgleiche Angriffe auf alevitische Gemeindehäuser und Vereine stattgefunden. Das zeigt, dass diese Angriffe geplant sind. Sie stehen in unmittelbarem Zusammenhang damit, dass die politischen Machthaber die Aleviten ausgrenzen, ihren Glauben missachten und über sie Politik betreiben. Daher tragen die politischen Machthaber Verantwortung für die Angriffe.“ Laut Karabudak gibt es Aufnahmen aus Überwachungskameras, die Vereine haben Anzeige gegen Unbekannt gestellt. Heute wollen die alevitischen Einrichtungen über ihr weiteres Vorgehen beraten.
Muharrem – wichtigste alevitische Trauerzeit
Die Muharrem-Fastenzeit der Alevit:innen, auch als Zwölf-Imame bekannt, ist eine der wichtigsten Trauerzeiten dieser weltanschaulichen Gemeinschaft. Erinnert wird mit dem unter anderen an Imam Hussein. Der Enkel des Propheten Mohammed und damit die entscheidende Integrationsfigur des schiitischen Islam ist am 10. Oktober 680 bei der Schlacht von Kerbela getötet worden. Die sunnitischen Ummayaden trugen den Sieg davon. In der islamischen Geschichte nach der Schia steht die Schlacht von Kerbela symbolisch für den Kampf zwischen „Gut und Böse“ – „Unterdrückte gegen Unterdrücker“ – und gilt als einer der tragischsten Vorfälle für die Schiiten. In der alevitischen, animistisch geprägten und tief in der Natur Kurdistans verwurzelten Weltanschauung finden sich trotz pantheistischem Gottesbilds immer wieder Bezüge zur Schia und insbesondere aufgrund der massiven Verfolgung in der Türkei und Nordkurdistan verstehen sich Teile der alevitischen Glaubensgemeinschaft als „islamisch-liberal“, während viele ursprüngliche Alevit:innen keinen Bezug zum Islam herstellen. Das Motiv der Unterdrückung und Verfolgung ist jedoch aufgrund der Geschichte zu einem ähnlich bedeutenden Leitmotiv des Alevismus geworden wie die Verehrung des Göttlichen in Mensch und Natur und die Achtung vor jedem Lebewesen.
Alevit:innen feiern im Muharrem keine Hochzeiten, kämmen ihre Haare nicht, baden nicht, schauen nicht in den Spiegel und schneiden ihre Nägel nicht. Sie essen kein Fleisch und trinken kein Wasser, „um den Durst der Märtyrer von Kerbela“ selbst zu spüren. Sie geben sich mit Getränken wie Tee und Ayran zufrieden, um den Flüssigkeitsbedarf des Körpers zu decken. Im Vordergrund steht jedoch weniger das Fasten als vielmehr das Teilen untereinander.